Wohin mit der Synagoge?

 

WÄRE EIN STARKES SYMBOL: NACHGEBAUTE SYNAGOGENFASSADE MIT INFORMATIONSZENTRUM

Keine Frage war das für die Nationalsozialisten und ihre Parteigänger am 9. November 1938: Hauptsache weg. Unter Mithilfe lokaler Behörden wie Feuerwehr und Polizei wurden hunderte von Synagogen in Deutschland geplündert und in Brand gesteckt. Nur wenige entgingen dem faschistischen Mob, aber das meist nur, weil die baulichen Verhältnisse das Abfackeln nicht zuließen.

Die Gießener Synagoge, von der hier die Rede ist, war die der liberalen jüdischen Gemeinde mit gut 500 Gläubigen. Das großzügige Bauwerk stand seit 1867 in der Südanlage neben der damaligen Bürgermeisterei, ab 1907 dann gegenüber dem neu errichteten Stadttheater. In der Pogromnacht von 1938 wurde diese Synagoge wie die der orthodoxen Gemeinde in der Steinstraße auf Befehl des Nazi-"Reichsstatthalters in Hessen" angezündet, angeblich sogar gesprengt, und das Mauerwerk anderntags eingerissen. Noch brauchbares Baumaterial durften eifrige Zeitgenossen sich dann abholen. Geschichte entsorgt. Die Gebäudefundamente blieben jedoch in der Erde, bis auf dem Gelände ab 1965 die Gießener Kongresshalle gebaut wurde.

Es mutet wie ein Witz an, dass es zu der Zeit keine öffentliche Diskussion um die Gebäudereste gab, die bei den Bauarbeiten zwangsläufig ans Tageslicht gekommen sein mussten. Aber da waren ja so viele Bomben auf die Stadt gefallen, die alles ununterscheidbar umgepflügt hatten. Umso heftiger die Reaktionen der politischen Öffentlichkeit, als bei Bauarbeiten vor der Südanlagenseite der Kongresshalle Anfang des Jahres 2023 die alten Kellerräume wieder auftauchten, oder besser: der Teil, der in den 60er Jahren den sozusagen zweiten Abriss überstanden hatte. Ein wenig ging wohl die Angst um, Raubgräber könnten sich einfinden. Deshalb wurde der Fund erst Mitte Februar öffentlich gemacht.

LINKS: DIE SYNAGOGE IN DEN 20er JAHREN, MITTE: DIE SÜDANLAGE 2020, RECHTS: DAS EINZIGE BEKANNTE FOTO VOM TAG DER BRANDSCHATZUNG

Jetzt ist sie wieder da, die Frage: wohin mit der Synagoge? Als Bodendenkmal zugeschüttet unter die Erde? Einen gläsernen Sargdeckel oben drauf? Anders gesagt, was ist wichtiger: eine denkmalschutztechnisch korrekt konservierte Fassade der Kongresshalle, ein präsentables Kongresshallen-Foyer oder, wie könnte man die Mauerreste eingedenk ihrer Geschichte an diesem Standort angemessen präsentieren?

Nach dem Zeitungsartikel "Reste der verbrannten Synagoge tauchen auf" in der Gießener Allgemeinen Zeitung vom 18.02.2023 sah sich dieser Autor veranlasst, die nachstehende Leserzuschrift zu schreiben und die obige Fotomontage als Ideenskizze beizufügen. Ein bisschen erstaunlich, es wurde alles gedruckt.

Im Artikel von Herrn Möller heißt es abschließend: "Die Überlegungen, wie der Fund der Nachwelt erhalten werden und wie das mit den Arbeiten an der Kongresshalle in Einklang gebracht werden kann, stehen ganz am Anfang." Ich hätte eine Anregung für die Neugestaltung unter Einbeziehung der Kellerräume und der Fundamente der Synagoge. Dazu ein grafischer Entwurf (beigefügt), freilich nur eine Ideenskizze. Mir fehlt die Software, um das angemessen visualisieren zu können. Stichpunkte:
1. Die Fassade der Synagoge wird in Form und Größe nachgebaut. Sie steht da, wo sie auch ursprünglich ihren Platz hatte, Gesicht gegenüber dem Stadttheater. Der Gartenzaun auf der Grafik würde entfallen oder nur angedeutet.
2. Anders als hier dargestellt wäre die tatsächliche Position der Synagogenfassade vermutlich etwas weiter links, Richtung Berliner Platz.
3. Hinter der Fassade, über deren Breite und bis zur Außenwand der Kongresshalle wird eine Glaskonstruktion mit einem neuen Eingangsbereich errichtet. Der wäre quaderförmig und würde einen Großteil der Ausgrabungsfläche (evtl. auch alles) überdecken. Somit würden Besucher im Normalfall über einen anzulegenden Steg oder auch durch die ehemaligen Kellerräume in die Kongresshalle gelangen.
4. Der bisherige Eingang daneben wird stillgelegt bzw. nur beim Einlass größerer Besucherzahlen geöffnet.
5. Auf die Weise wird ein "archäologischer Park" unter freiem Himmel, wie es ihn jahrzehntelang neben dem Frankfurter Römer gegeben hat, vermieden. Der ist inzwischen in der Neubebauung integriert. Die bisher reichlich tote Freifläche vor der Südanlagenseite der Kongresshalle hätte eine würdige Aufwertung erfahren.
6. Je nach Ausführung und zur Verfügung stehender Fläche könnten in dem Bereich auch kleinere Veranstaltungen und Empfänge stattfinden.

Vier Monate sind seither vergangen, eine Entscheidung ist noch nicht gefallen.

Pressespiegel:

Gießener Allgemeine Zeitung am 18.02.2023: Reste der verbrannten Synagoge tauchen auf (Artikel online zweimal)
Hessenschau am 22.02.2023: Überreste der verbrannten Synagoge entdeckt
Giessen.de (städtische Website): Überraschungsfund: Reste der zerstörten ehemaligen Synagoge freigelegt
Archäologie in Deutschland: Fundamente der Synagoge in Gießen wiederentdeckt (online https://aid-magazin.de/2023/03/06/synagoge-in-giessen-wiederentdeckt/)

Das digitale Abbild der Stadt Gießen im Mesh-Format basiert auf Daten der Luftbildbefliegung im März 2020. Vermessungsamt Gießen

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