F wie Fälschung Einzug der US-Armee in Gießen am 28. März 1945

Am 28. März 1945 rückten Panzer und Infanterie der US-Armee von Westen kommend über die Rodheimer Straße stadteinwärts auf die Sachsenhäuser Brücke vor, damals die einzige Lahnbrücke. Nach Zeitzeugenberichten wurde die Brücke eine zeitlang von verbliebenen Nazis verteidigt, dann versucht zu sprengen. Das klappte jedoch nicht ganz.

1 2
3 4
5 6
7 8

Wie bei vielen anderen Einheiten auch wurde die Truppe seit der Landung der Alliierten in der Normandie von Kameraleuten begleitet. Namhafte Hollywoodregisseure wie John Ford oder George Stevens waren mit ihren Filmeinheiten zusammen mit den kämpfenden Truppen unterwegs. Vom Einmarsch in Gießen existieren knapp dreieinhalb Minuten Filmmaterial, das 2020 für einen kommentarlosen Beitrag unter dem Titel „1945+ich“ vom Hessischen Rundfunk bearbeitet und veröffentlicht wurde. Das Video ist im Internet verfügbar.

Der Gießen betreffende Abschnitt beginnt in der Rodheimer Straße und endet mit einer Einstellung in der zerstörten Steinstraße. Es handelt sich nicht um eine ununterbrochene Filmsequenz, sondern um insgesamt 25 Kameraeinstellungen („takes“). In der HR-Bearbeitung fehlen die üblichen Kennzeichnungen am Beginn eines Takes wie das Datum, der Name des Kameramanns und evtl. der Ort. Im Internet wiederrum kann man deren Rohfassung finden. Wesentliche Weglassungen gibt es nicht, auf den Rollenentiteln ist hier aber "Spangle #4 3/28" angegeben, wahrscheinlich der Names des Kameramanns, die Rollennummer und das Datum. Ob das das gesamte Filmmaterial von diesem Ereignis aus oder über Gießen ist, bleibt unklar. Nicht sicher zu sagen ist allerdings, ob hier wirklich der kritische Moment des Vorrückens der US-Army auf die Gießener Innenstadt zu sehen ist. Wir schauen genauer hin.

Abbildung 1: Infanteristen in der Rodheimer Straße vor der (heutigen) Nummer 49/51 laufen hinter einem Panzer. Einer gibt ein paar Schüsse nach rechts auf das Haus oder auf etwas daneben ab.

Abbildung 2: Die Soldaten in derselben Situation noch einmal von halbnah; der Kameramann bleibt hier einige Meter hinter dem Panzer zurück. Die abgegebenen Schüsse wirken nicht sehr gezielt, eher so, als müsse es für die Filmaufnahme sein. Sorgen um die eigene Deckung scheinen sich weder der Kameramann noch der Soldat zu machen.

Abbildung 3: Die Einheit rückt in der Straßenbiegung kurz vor dem Abzweig der Schlachthofstraße rechts vor. Die Soldaten suchen an den Gartenzäunen Deckung. Es handelt sich um das Haus mit der heutigen Nummer 21, der Kinderladen. Die Vorgärten und Straßenbäume existieren nicht mehr. Einer läuft wie aus Versehen der Kamera über den Weg und macht ihr Platz.

Abbildung 4: Der Kamerastandort ist nun jenseits der Schlachthofstraße, weniger als hundert Meter vor der Brücke, der Blick geht zurück. Unklar, ob das Terrain in Richtung Brücke, vor der Kamera, schon gesichert war. Man muss es annehmen.

Abbildung 5: Soldaten stürmen an Panzern und der Kamera vorbei auf die Sachsenhäuser Brücke zu, wie um deren Einnahme nachdrücklich unter Beweis zu stellen. Die Brücke hat erkennbaren Schaden genommen, ist aber insgesamt intakt geblieben.

Abbildung 6: Erneut Blick zurück auf das Haus an der Schlachthofstraße; die Kamera nun halbnah vor dem Panzer, dessen Maschinengewehr in Richtung Lahn feuert. Ob dieser Panzer der vorderste in Richtung Brücke ist, bleibt unklar.

Abbildung 7: Umschnitt zurück, die Kamera nun zuerst hinter, dann direkt neben einem Panzer, nicht ersichtlich welcher es ist. Daneben laufen Soldaten am Fußweg zum Restaurant Pulvermühle (heute Knossos) vorbei auf die Brücke zu.

Abbildung 8: Dieser Take, Nr. 17 in der Chronologie des Videos, ist deutlich später entstanden. Die Kampfhandlungen sind beendet. Auf der Brücke flicken deutsche Kriegsgefangene mit bloßen Händen notdürftig die Brückenfahrbahn.

Fazit: Eine Bild-, nein: Filmmanipulation liegt hier nicht vor. Es besteht aber die Möglichkeit, dass es sich um eine nachgestellte Aktion handelt. Das wäre nichts Ungewöhnliches. Das Hissen der Sowjetfahne am zerschossenen Reichstagsgebäude in Berlin 1945 war eine nachträgliche Inszenierung ebenso wie das Aufrichten der US-Flagge nach – nicht während – der Eroberung der Pazifikinsel Iwo Jima im Zweiten Weltkrieg. Für die Annahme spricht die insgesamt eher geruhsame Darstellung der Situation. Die Kontinuität der Takes, die Filmmontage entsprechen nicht der örtlichen Topografie. Fraglich, ob es die Perspektivwechsel der Kameraeinstellungen unter Gefecht gegeben hätte. Möglich auch, aber eher unwahrscheinlich, dass zwei Kameraleute am Werk waren.

Allerdings, dass ausgerechnet der Einmarsch der US-Armee ins relativ unbedeutende Gießen filmisch nachinszeniert worden sein sollte, dieser Einwand ist berechtigt.

Juni 2023

 

Übersicht

Inhaltsübersicht