Auf historischen Ansichtskarten von der Südseite des Gießener Marktplatzes, die über die Jahrzehnte hergestellt wurden, ist vor der Kaminka-Apotheke das Kriegerdenkmal zu sehen. Im Jahr 1895 hatte sich eine Initiative für seine Errichtung in Erinnerung an die Kapitulation der französischen Armee 1870 und den so begangenen "Sedan-Feiertag" eingesetzt. Im Mai 1900 wurde es eingeweiht und im Zweiten Weltkrieg beim massivsten aller Luftangriffe am 6. Dezember 1944 mitsamt der Gießener Altstadt vernichtet.


Auf einer dieser Ansichten jedoch fehlt das Denkmal wundersamerweise. Dabei stammt die Aufnahme geschätzt aus den 20er Jahren, evtl. sogar später, aber eindeutig aus der Zeit nach der Errichtung, denn im Pflaster sind die Straßenbahnschienen zu erkennen. Die Gießener Straßenbahn war 1909 in Betrieb gegangen, und schon immer trafen sich die rote und die grüne Linie für den Richtungswechsel am Marktplatz. Wer auch immer der Retuscheur hier war, er oder sie hat sich einige Mühe gemacht, das Denkmal aus der Fotografie zu entfernen und hat dabei sowohl den Untergrund, eine Verkehrsinsel, wie auch die vom Denkmal verdeckte Fensterfront des Hauses Kaminka rekonstruiert. Ob zeitgenössische Postkartenschreiberinnen und -schreiber sich der Manipulation bewusst waren, wird im Dunkel der Geschichte bleiben.
Nicht auszuschließen auch, dass es sich sogar um eine neuzeitliche, digitale Manipulation handelt, vielleicht mit einer politischen Aussage gegen die Zurschaustellung des preußischen Militarismus, oder es handelt sich einfach um eine Fingerübung in Sachen Bildbearbeitung. Über die Beweggründe wird man wohl nichts in Erfahrung bringen.
Juni 2023 |