F wie Fälschung Das gemalte Haus

Fotografiert oder gemalt ist oftmals die Frage. Die Marktplatz-Südseite ist über die Jahrzehnte sehr oft abgelichtet worden, allein dieses eine Motiv mit der Rahmenbeschriftung "Giessen, Marktplatz, Kriegerdenkmal, altes Rathaus" gibt es in mindestens zwei Varianten, wobei nur der Text leicht unterschiedlich angeordnet ist. Die Aufnahme als solche scheint aus den 20er Jahren zu stammen. Zu sehen ist ein Straßenbahnwagen an seiner Haltestelle, ein paar wenige Menschen. Vielleicht war es ein Sonntag. Insoweit ist an dem Postkartenmotiv nichts Ungewöhnliches. Beim genaueren Hinsehen wird deutlich, dass hier etwas nicht stimmt.
Man reibt sich die Augen, ist es noch Foto oder schon Zeichnung? Fast keine Umrisslinie an Gebäuden, an Fensterrahmen und -simsen, an den Fachwerkbalken und Dachziegeln, die nicht mit einem Zeichenstift nachgezogen worden ist. Der Krieger auf dem Denkmalsockel sieht geradezu grobschlächtig aus in seinen nachgemalten Umrissen. Er scheint riesige Schuhe anzuhaben, tatsächlich sind es zwei nach unten weisende Lorbeerkränze oder Girlanden. Die Tönung der Holzbalken am Haus Kaminka ist stark, und am Nachbarhaus rechts ist bei den Fenstern mit Strichen nachgebessert worden, um die Konturen deutlicher hervorzuheben. Die Gebäude der Marktstraße, die ganze rechte Bildseite, sind sämtlich gemalt bzw. gezeichnet. Und das umso mehr, je weiter man in die Ferne schaut. Der Turm auf dem Dach des Rathauses ist im unteren Teil mit Schiefer verkleidet. Auf dem gemalten Foto sieht man nur eine graue Fläche. Ebenso simplifiziert der Teil oberhalb der Torbögen am Rathaus, wo in Wirklichkeit vier ausgefüllte Gefache zu sehen wären. Am ehesten fotografisch ist die Mäusburg, die linke Seite des Bildes.

Das wiederrum muss man dem Urheber zugestehen: Als Postkartendruck bei einem Format von etwa 15x10 Zentimetern, und das ist hier wohl ausschlaggebend, ist die Manipulation kaum erkennbar. Sie ist gut und nur am PC-Monitor in vergrößerter Ansicht sichtbar. Dennoch stellt sich die Frage nach dem Warum. Die Antwort könnte sein, was heutzutage mit Photoshop gängige Praxis ist, war in der Dunkelkammer allemal üblich. Suboptimale Fotos, schlechte Aufnahmen oder missratene Motive wurden nachgebessert. Vielleicht waren hier die Häuser auf der rechten Bildhälfte überstrahlt, zu hell und konturenlos und wurden deshalb nachgezeichnet. Alles in allem scheint sich zu bestätigen, dass die Berufe "Postkartenfotograf" und "Postkartenmaler" einmal identisch waren.

Juni 2023

 

Ausgeixt

Inhaltsübersicht