... und mit den Bildmanipulationen. Besonders, könnte man sagen, wenn es wie hier um die nördliche Seite des Gießener Kreuzplatzes geht.
Die zugrunde liegende Aufnahme lässt sich zeitlich grob um 1900 einordnen, aber auf jeden Fall vor 1909 und dem Bau der Straßenbahn an der Stelle. Auf den ersten Blick sind die beiden Ansichten identisch, die obere lediglich am unteren Bildrand abgeschnitten und mit der Beschriftung "Gießen" und "Kreuzplatz und Mäusburg" versehen. Der Zweck ist der, mehr Schreibfläche auf der Vorderseite zur Verfügung zu stellen. Möglich, dass die eine die Originalfotografie und die andere die daraus hervorgegangene Postkarte ist. Durch die erweiterte Schreibfläche ist der Wasserbrunnen in der Straßenmitte (etwa da, wo heute der Kugelbrunnen ist) nur teilweise überdeckt worden, sodass auch der sichtbare Rest wegretuschiert werden musste.
Beim genaueren Hinsehen fallen beim oberen Foto Manipulationen auf, ganz besonders der Helligkeitsunterschied zwischen den beiden Abbildungen. Es muss ein sehr sonniger, wahrscheinlich heißer Tag gewesen sein. Am besagten Brunnen stehen Leute mit Eimern an, um Wasser zu holen. Im hier nun angenommenen Original (unten) liegen die Gebäude rechts tief im Schatten, auf der Postkarte ist der völlig verschwunden. Auf dem Bild oben auch verschwunden ist eine Markise über einem Schaufenster ganz links im Bild und auch zwei Erwachsene und ein Kind rechts daneben. Die Erwachsenen sind wegen der langen Belichtungszeit in der Bewegung verschwommen.
Und wie auf vielen anderen Ansichtspostkarten sind auch hier ganze Partien mit dem Retuschestift nachgezeichnet worden: sowohl der Gehweg links entlang der Häuser und teilweise in der Platzmitte vor der Straßenleuchte als auch die Gebäudefronten selbst, links und rechts im Vordergrund. Das im Original noch erkennbare, im Sonnenlicht reflektierende Straßenpflaster ist im Bild oben zugunsten einer wolkigen Weichzeichnung verschwunden.
Bildmanipulation, so lernen wir wieder einmal, ist keine Sache der Neuzeit.
Juni 2023 |
