Gießener Gesichter Paare Marktplatz Südseite

 

Die Südseite des Gießener Marktplatzes gehört zu den am meisten auf Postkarten abgebildeten Plätzen der Stadt. Zu sehen ist links das als Haus Kaminka bekannte Fachwerkgebäude, das schon vor 1840 das Aussehen wie bis zu seiner Zerstörung hatte. Früher befand sich eine Apotheke darin. Das Nachbarhaus wurde nach 1870 anstelle eines schlichten Vorgängerbaus errichtet. Die Aufnahme soll um 1935 entstanden sein. Am Marktplatz trafen sich die grüne und die rote Linie der Gießener Straßenbahn, die es seit 1909 gab. Vor der Häuserzeile stand seit 1900 das Kriegerdenkmal zu Ehren des Sieges über die französische Armee 1871.

Der Marktplatz diente in der Geschichte der Stadt nur relativ kurz dem Marktgeschehen, dafür war er bald viel zu klein. Zudem gab es, und nicht nur in Gießen, für verschiedene Produkte wie Gemüse oder Fleisch, lebende Tiere usw. vorgeschriebene räumlich getrennte Standorte; so auf dem Lindenplatz und in der Schulstraße. Aber der Marktplatz war schon immer der Schnittpunkt wichtiger Straßen: links die Mäusburg, die sehr enge Verbindung in Richtung Kreuzplatz und Seltersweg; rechts die Marktstraße (ganz früher Kuhgasse) in Richtung Westen zum früheren Neustädter Tor und zur Lahn. Am Beginn der Marktstraße sind auf dem historischen Foto gerade noch die Front und das Dach des alten Rathauses (mit Wetterfahne) zu sehen. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Gebiet um den Markt- sowie den angrenzenden Kirchenplatz beim schwersten alle Luftangriffe am Nikolaustag 1944 völlig zerstört. Vom Rathaus blieben die Erdgeschoss-Arkaden stehen. Manche behaupten, man hätte sie erhalten können. Doch dann wären sie anderen Interessen im Weg gewesen.

Hier liegt der Grund, warum Forderungen nach einer historischen Rekonstruktion des Marktplatzes ins Leere laufen müssen: Geleitet vom Gedanken an die autogerechte Innenstadt, wurden beim Wiederaufbau ab 1948 die Gebäudegrenzen zugunsten breiterer Straßen zurückverlegt. Der Ort des Kaminka-Gebäudekomplexes und alles dahinter, einschließlich der Wettergasse verschwand. Der Marktplatz wurde breiter. Die Fassade des Stadtwerke Kundenzentrums markiert in etwa die südliche Seite der Wettergasse. Das ist der Unterschied zur neuen Frankfurter Altstadt, die nach dem Abriss des Technischen Rathauses an historischer Stelle und auf den alten Grundrissen nachgebaut werden konnte. Allerdings ohne Kellergeschosse, denn dort verläuft der U-Bahntunnel und befindet sich eine Tiefgarage.

Die Neugestaltung des Marktplatzes 2004/2005, mit interessanten historischen Funden, endete in einem für Gießen typischen gestalterischen Fiasko, alldieweil zwar Politiker und Straßenbauer, nicht aber Landschafts- bzw. Städteplaner Hand anlegen durften.

Der Straßenbelag erwies sich nach kürzester Zeit als zu weich für den starken Busverkehr und musste gegen einen Betonuntergrund mit der Anmutung einer Start- und Landebahn ausgetauscht werden. Schwerer noch wiegt die Missachtung der Topografie des Platzes, also die Anordnung der zulaufenden Straßen, hier in Form eines "H" bzw. eines "V", wenn man das Südende des Platzes betrachtet, und was das für eine angemessene neue Gestaltung hätte bedeuten können: links und rechts ein Mehr für Gastronomie und sonstige Aktivitäten als aktuell nur Raum für Wartende. Also: weniger Busbahnhof und mehr Platz. Das jedoch hätte auch eine Neuordnung des Busliniennetzes insgesamt erfordert, mit allen Konsequenzen wie verstärkter Taktfrequenz. Niemand wollte das. Darauf warten wir, Nahverkehrsplan hin oder her, heute noch.

Zu allem Übel wurden für teuer Geld vier bunt beleuchtbare stylische Buswartehäuschen, alle zusammen mit sage und schreibe 16 Sitzplätzen, angeschafft. Der Preis pro entstandenem Sitzplatz lässt sich folglich kaum aussprechen, ohne sofort in Buswartehäuschengrün anzulaufen, gut 4.380 Euro. Und diese wenigen Plätze werden noch dazu meistens von unerwünschtem Klientel in Beschlag genommen. Es kommt aber noch schlimmer: Da die Neumöblierung des Marktplatzes mit Mitteln eines europäischen Fonds gefördert wurde, darf die erneute Umgestaltung des Platzes und also ein Ersatz für die Warteklos erst 2032 angegangen werden. Andernfalls droht der Stadt die Rückforderung der finanziellen Förderung. Wenn es jemals eine handfestere Bestätigung für das Sprichwort "Griff ins Klo" gebraucht hätte...

Am Ende ist der Platz aufgrund seiner Funktion zwar belebt, weil viele dorthin wollen oder müssen, aber doch ein Konglomerat stadtplanerischer Einfallslosigkeit und alles andere als einladend.

Das digitale Abbild der Stadt Gießen im Mesh-Format basiert auf Daten der Luftbildbefliegung im März 2020. Vermessungsamt Gießen

Juni/Dezember 2023

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