Gießener Gesichter Paare Flutgraben

 

Die Geschichte der Angriffe auf die historische Gießener Bausubstanz beschränkt sich nicht auf die Zeit im und nach dem Zweiten Weltkrieg. Vernichtung von Wohnraum war seit Anfang der 70er Jahre auch in Gießen ein Thema in den Medien. Im Frankfurter Westend tobte der Häuserkampf gegen die Vertreibung der Wohnbevölkerung zugunsten der Schaffung von Büroraum. Ende der 70er Jahre gab es allein in (West-) Berlin mehrere hundert besetzte Häuser. Im Unterschied dazu interessierte der Abriss des Teufelslustgärtchens, ein Stück Gießener Altstadt, zu Beginn der 60er Jahre kaum jemanden aus der Stadtgesellschaft.

Der Flutgraben ist eine Nebenstraße der Bahnhofstraße. Hier befand sich der Firmensitz des Möbelhauses Sommerlad. In den späten 70er Jahren expandierten die Verkaufs- und Ausstellungsräume auf beide Seiten des Flutgrabens. Ein neues Mitnahmecenter und ein Parkhaus sollten für bessere Kundenfreundlichkeit sorgen. Gegen diese schon ab Mitte der 70er Jahre vorangetriebenen Pläne erhob sich Widerstand nicht nur bei den Bewohnerinnen und Bewohnern der betroffenen Häuser Nr. 4 bis 8, sondern auch von anderen Initiativen in der Stadt. Die Stadt Gießen erteilte wie so oft in der kurzen Nachkriegsgeschichte die Abrissgenehmigung. Dabei spielte ihr in die Karten, dass das sogenannte Wohnraumzweckentfremdungsverbot für die kurz vorher gegründete Stadt Lahn* nicht mehr in Kraft war. Einige Räumungsklagen gegen Mieter der Hausnummern 6 und 8 waren erfolgreich, andere nicht. Es kam zu Gerichtsprozessen, die für das Möbelhaus überwiegend verloren gingen. Es gab weiterhin rechtskräftige Mietverhältnisse. Aber ein Teil der Häuser stand nun leer.

FOTOS: ARNO BAUMGÄRTEL, 1981; ABB. RECHTS: BEINAHE PROPHETISCH

Ende März 1981 rückte ein Bautrupp an, um die Hausnummern 6 und 8 niederzulegen. Dabei "irrte", wie es offiziell hieß, der Baggerführer. Das Haus Nr. 4 wurde eingerissen, das Treppenhaus war voller Schutt und unpassierbar. Fotos zeigen einen Bewohner, der sich auf der Rückseite über die Balkone nach unten hangelt. Diese dreiste Aktion war rechtswidrig und rief am selben Tag umgehend die studentische und die außeruniversitäre Szene auf den Plan. Tagelang kam es wiedeholt zu Mahnwachen vor der Halbruine und zu abendlichen Demonstrationen gegen die Möbelstadt ("... walzt demnächst auch dein Haus platt" **) sowie gegen die willfährige Abrisspolitik des Gießener Magistrats. Die heftigste am 2. April ging als "Scherbennacht" in die Geschichte ein: Schaufenster von Banken und anderen auch unbeteiligten Geschäften in der Innenstadt wurden zerstört.
Und als ob nichts gewesen wäre, kam es noch im selben Jahr zu ganz ähnlichen Ereignissen mit dem Abriss des Ensembles Samen-Hahn (nach dem früheren Geschäftshaus) in der Bahnhofstraße.

Mitte der 90er Jahre zog die Möbelstadt Sommerlad in einen Neubau im Schiffenberger Tal. Der eigentliche Grund für den Bau des Parkhauses im Flutgraben war damit Makulatur und die politischen und juristischen Auseinandersetzungen völlig umsonst.

Eine besonders peinliche Note erhielt die Angelegenheit im Nachgang um 2008, als der Stadt Gießen für die Neubebauung des ehemaligen Möbelstadt-Grundstücks zwischen Wieseck und Flutgraben nichts Besseres einfiel, als einen architektonisch mehr als kümmerlichen Barrackenkomplex samt einem zusätzlichen - genau gegenüber dem der Möbelstadt gelegenen - Parkhaus zu genehmigen.

* Ein politisches Retortengebilde aus den Städten Wetzlar und Gießen sowie einigen Gemeinden im Umland; gebildet 1977, 1979 wieder aufgelöst.
** So erschienen im Elephantenklo - Zeitung für Gießen und Umgebung, Nr. 53 am 05.11.1979

Das digitale Abbild der Stadt Gießen im Mesh-Format basiert auf Daten der Luftbildbefliegung im März 2020. Vermessungsamt Gießen

Juni 2023

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