Gießener Gesichter Paare Uniwiese, Bismarck-/Stephanstraße

 

Schön, so ein Kinderspielplatz und ein bisschen Grün mitten in der Stadt. Und nebenan der Uni-Parkplatz, so praktisch, denn bis ins Jahr 2010 kostenlos für alle. Die Wiese hinter dem Uni-Hauptgebäude scheint schon immer da gewesen zu sein. Dabei sah alles einmal ganz anders aus.

Es gibt Freiflächen in der Gießener Innenstadt, bei denen man sich kaum jemals fragt, warum sie gerade an dieser oder jener Stelle sind. Oft werden sie als Parkplätze genutzt. Beim Anschauen von alten Fotos ist man verwirrt, man erkennt dieselbe Stelle aber nicht wieder, weil die Umgebung anders aussah, unter anderem, weil im Gründerzeitviertel rund um die Ludwigstraße eine geschlossene Bauweise üblich war. Die Bürgerhäuser standen eins neben dem anderen, getrennt durch eine Hofeinfahrt, selten durch ein größeres Grundstück. In Eckhäusern waren in der Regel Geschäfte; so auch in der Bismarckstraße 30: "Friedrich Kopp, Colonialwaren – Cigarren".

Nicht Kriegsschäden sind der Grund für den Abriss hier, sondern die 60er Jahre. In dieser Zeit, die Ära der zweiten Zerstörung der Innenstadt, in der unter anderem das Teufelslustgärtchen der Baggerschaufel zum Opfer fiel, explodierten an den deutschen Universitäten die Studentenzahlen; so auch in Gießen. Raummangel war eine Folge des Krieges. Uni-Institute in Gießen waren über die ganze Stadt und besonders im Südviertel verteilt. Wo sollte der Unterricht stattfinden?
Ein für Gießener Verhältnisse nicht gerade bescheidener Plan sah den Bau eines 107 Meter hohen "Philosophikumsturms" für die geisteswissenschaftlichen Fächer genau auf dem Carré (= vier Gebäude) Bismarckstraße, Ecke Stephanstraße vor. Aus dem Plan wurde nie etwas. "Im Nachhinein", schrieb die Gießener Allgemeine Zeitung am 16.09.2018 rückblickend, "muss man dankbar sein, dass mancher Plan nicht umgesetzt wurde - etwa das Vorhaben, hinter dem Uni-Hauptgebäude einen mehr als 100 Meter hohen Turm für die Philosophische Fakultät zu errichten. Dafür gab es schon Detailplanungen. Es scheiterte letztlich, weil der Untergrund dort zu weich ist und es ein Einsehen gab, dass das Monstrum enormen Schatten geworfen hätte."
Etwa zur gleichen Zeit, Anfang der 60er Jahre, entstand im Frankfurter Westend der "AfE-Turm" für die sozialwissenschaftlichen und pädagogischen Fachbereiche. "AfE" – "Abteilung für Erziehungswissenschaften" – ist auch die frühere Bezeichnung für das heutige Gießener Philosophikum II. Der Gießener "AfE-Turm" wurde nie gebaut. Der in Frankfurt wurde 2014, weil in schlechtem baulichem Zustand und funktional seit jeher eine Katastrophe, aufgegeben und gesprengt.

Die heutige Uniwiese ist also die frühere Baugrube. Sie hat überdauert. Wer weiß, vielleicht sähe der Ort nach dem Abriss des Turmes schon wieder genauso aus. Ob das Stadtbild dadurch gewonnen hat, ist eine andere Frage. Und warum das Haus in der Stephanstraße auf dem Foto von 1965 eingerüstet war, wo doch alles weg musste, ist nicht bekannt. Abgerissen wurde es wie sein Nachbar schließlich doch.

Das digitale Abbild der Stadt Gießen im Mesh-Format basiert auf Daten der Luftbildbefliegung im März 2020. Vermessungsamt Gießen

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