Gießener Gesichter Paare Alte Universitätsbibliothek

 

Wenn, nach einem Bonmot, Frankfurts Alte Oper "Deutschlands schönste Ruine" war, dann war Gießens Alte Universitätsbibliothek ganz sicher die zweitschönste. Die Alte Oper wurde 1944 bei mehreren Luftangriffen fast ganz zerstört, nur die Außenmauern blieben erhalten. Und obwohl Frankfurt mit seiner historischen Bausubstanz nie zimperlich umging, blieb die Alte Oper aus verschiedenen Gründen von der schnellen endgültigen Entsorgung verschont. Die Diskussion um Abriss oder Wiederaufbau zog sich über 30 Jahre hin. 1965 zeigte der damalige hessische Wirtschaftsminister Rudi Arndt ein loses Mundwerk und bot an, das Dynamit für die Sprengung der Ruine zu bezahlen, was ihm den Spitznamen "Dynamit-Rudi" einbrachte. Es war wiederrum Rudi Arndt, der 1976 – jetzt als Frankfurter Oberbürgermeister – den Wiederaufbau anstieß. 1981 wurde die Alte Oper dann mit einem neuen Innenleben als Konzert- und Kongresszentrum neu eröffnet.

Nach Gründung der Gießener Universität im Jahr 1607 war die Universitätsbibliothek immer wieder an verschiedenen Orten in der Stadt untergebracht, so 1820 in der Alten Kaserne an der Liebigstraße und 1880 im damaligen Collegiengebäude am Brandplatz. 1904 wurde der eigens für Bibliotheksbedürfnisse ausgelegte Neubau mit Jugendstilelementen im Universitätsviertel an der Bismarckstraße errichtet. Im Zweiten Weltkrieg bekam die UB einen Volltreffer und brannte aus. 90 Prozent der Bücherbestände wurden vernichtet, Altbestände waren rechtzeitig ausgelagert worden.

DIE ALTE UB UM 1910 AN DER BISMARCKSTRASSE

Bei allen sonstigen Unterschieden hinsichtlich Größe und Bauweise zeigen die Ruine der Alten Oper und die der alten Gießener Universitätsbibliothek ein paar äußerliche Ähnlichkeiten. Doch der Gießener Ruine war kein zweites Leben beschieden. Es entzieht sich der Kenntnis dieses Autors, ob die Überreste der alten UB hätten erhalten werden können, nicht unwahrscheinlich. Immerhin scheint das Mauerwerk stabil genug gewesen zu sein, dass man es ohne weitere Absicherung bis zum Bau der neuen UB stehen lassen konnte. Im Erdgeschoss und in den Kellerräumen wurde bis 1956 sogar ein provisorischer Bibliotheksdienst betrieben. Aber die Losung der Stadtplaner jener Zeit hieß: 'weg mit dem Krempel.' Der gesellschaftliche und politische Neuanfang in Richtung Demokratie musste sich auch architektonisch manifestieren. Stilistisch im Kontrast zur Umgebungsbebauung stehende Solitärbauwerke waren en vogue; das frühere Landratsamt an der Ostanlage zeugt davon, ebenso Gebäude am Ludwigsplatz und, last not least, die aus heutiger Sicht "Neue Alte" Unibibliothek eben am Standort des Vorgängerbaus.

Nach dem Neubau der Unibibliothek 1983 neben dem Philosophikum I wurde die "Neue Alte" UB für verschiedene Zwecke genutzt, steht aber überwiegend leer. Mittlerweile ist der Komplex für einen symbolischen Euro an einen Investor verkauft worden. Der schwarze Bücherturm an der Keplerstraße soll zu Wohnungen umgebaut werden. Hintergrund für den Verkauf sind vor allem die anstehenden enormen Sanierungskosten für das 1959 eröffnete erste nach dem Krieg neu erbaute Universitätsgebäude. Das Innere ist mit Asbest verseucht (der jedoch im Mauerwerk eingeschlossen ist). Weder die Universität noch das Land Hessen möchten die Sanierung bezahlen. Abreißen und neu bauen ist auch nicht möglich, weil die frühere UB unter Denkmalschutz steht. Und vielleicht spielt auch eine Rolle, dass sich unter dem Lesesaaltrakt ein Luftschutzbunker befindet, eine Altlast des Kalten Krieges, eventuell ein schwer zu beseitigendes Hindernis bei der Neugestaltung. Die Neue UB wird aktuell durch einen Neu- und Erweiterungsbau ergänzt.

Das digitale Abbild der Stadt Gießen im Mesh-Format basiert auf Daten der Luftbildbefliegung im März 2020. Vermessungsamt Gießen

Juli 2023

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