Nicht mehr viele heute, die noch davon wissen, und vor allem, was auf die Stadt zugekommen wäre, wenn diese Betonrinne realisiert worden wäre; Stichwort: Flächenverbrauch durch Betonbauten. Auf dem Foto aus der Gießener Allgemeinen Zeitung (unten) ist das zu sehen, was als Hochstraße oder Hochstraßenprojekt bzw. unter dem Begriff "Betonbrutalismus" bekannt geworden ist. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung am 6. Februar 1970 war die schrankenfreie Überwindung des Bahnübergangs in der Frankfurter Straße seit ziemlich genau zehn Jahren in der Diskussion. Lässt man die Geschichte dieses Vorhabens heute Revue passieren, kommt man nicht umhin anzunehmen, dass es für die Stadt Gießen kein dringenderes Problem gegeben haben muss als der den Geist der Zeit - den Fortschritt - behindernde lästige Bahnübergang. An den Verkehrsstaus aber, so ehrlich sollte man sein, war nicht er schuld, sondern das Wachstums des Autoverkehrs.
Der von den Nazis betriebene Autobahnbau in den 30er Jahren war ein propagandistischer Witz gewesen, einfach weil private Kraftfahrzeuge im Dritten Reich eher spärlich gesät waren. Das deutsche Straßennetz war bei Kriegsende und in den späten 50er Jahren landesweit im Grunde dasselbe wie vor dem Krieg, ein paar kaum genutzte Autobahnkilometer und viele schmale Land- und Bundesstraßen. Wer im mittelhessischen Raum zur Autobahn (die heutige A5) wollte, musste durch Gießen und über die Licher Straße nach Fernwald-Steinbach zur Auffahrt, die sich damals "Gießen Ost" nannte.
Wachstum heißt hier gut ausgebaute, breite Straßen und grüne Wellen für den immer mehr werdenden bundesdeutschen Autoverkehr. Georg Leber (SPD), Bundesverkehrsminister während der ersten Großen Koalition in Bonn, verkündete 1966, kein Deutscher solle mehr als zwanzig Kilometer von einer Autobahnauffahrt entfernt leben. Was das für den lokalen und regionalen Straßenausbau bedeutete, war in Gießen zu studieren. Hier hatte man sich ganz den automobilen Ausbauzielen verschrieben. Der Gießener Ring als äußere überregionale Umfahrung sollte durch Schnellstraßen und ihre Zubringer an den innerstädtischen Anlagenring, der in jede Richtung zweispurig ausgebaut wurde, angeschlossen werden. Der Alleencharakter vieler Gießener Straßen aus der Vorkriegszeit verschwand weitgehend ebenso wie die vielen Vorgärten in der Frankfurter oder in der Licher Straße.
Für den als störend empfundenen straßengleichen Bahnübergang in der Frankfurter Straße gab es gleich mehrere Pläne. Nach einem aus den frühen 60er Jahren sollte eine Brücke westlich des Bahnübergangs gebaut werden. Die Gießener Allgemeine Zeitung beschreibt dieses geplante Bauwerk in einem Rückblick vom 29.03.2019 als "behutsam(en)" Eingriff ins Stadtbild. Der Plan wurde verworfen. Angeblich war die Brücke "zu gewunden." Kurvenfahrten - ebenso wie Kreisverkehre - entsprachen nicht dem Stand des Denkens, denn das hätte sich ja um 180 Grad drehen können. Für den Individualverkehr gab es nur geradeaus nach vorne. Keine Chance hatte auch eine Unterfahrung der Eisenbahngleise wie in Butzbach, die als technisch zu schwierig galt.

1: Brücke über die Bahngleise, Hochstraßendamm und Überbrückung der Alicenstraße
2: Einmündung der Hochstraße in die Südanlage
3: Frankfurter Straße 1/3 zu dem Zeitpunkt mit Altbebauung (Café Hettler)
4: Dresdner Bank, später Commerzbank-Neubau
5: Nie realisiertes Hochhaus, nur Behelfsbauten; Karstadt erweitert um 1988 bis zur Westanlage
So kam es mit dem Generalverkehrsplan von 1967 zu der großen verkehrstechnischen Geste (Abb. oben): Stadteinwärts sollte die Frankfurter Straße auf einer neuen Trasse vor der Liebigstraße nach rechts schwenken und auf Stelzen über die Alicenstraße hinaus bis hin zur Kreuzung Südanlage/Bleichstraße führen. Die Häuser Alicenstraße 18 und Südanlage 20 wurden vom Land aufgekauft, um sie später für die neue Trasse abzureißen. Der Baubeginn war für Ende 1976 angesetzt. Doch daraus wurde nichts. Denn geraume Zeit vorher hatte sich eine Bürgerinitiative gegründet und so viel öffentlichen politischen Widerstand gegen die Hochstraße erzeugt, dass das Vorhaben auch angesichts der bevorstehenden Landtagswahlen 1978 gestoppt wurde. Die betreffenden Häuser blieben leer, bis sie 1981 besetzt wurden.

QUELLE: MITTEILUNGEN DES OBERHESSISCHEN
GESCHICHTSVEREINS 103/2018; GRAFIK: GIESSENER ANZEIGER
Für den Kreuzungsbereich Selterstor (Abb. oben) mit dem seit 1940 bestehenden Kreisverkehr gab es dagegen noch Mitte der 60er Jahre keine befriedigende Lösung.
Die Haupteinkaufsstraße Seltersweg war perspektivisch als Fußgängerzone geplant. Klar war, dass die Fußgängerströme aus Richtung Bahnhof und die Kraftfahrzeuge sich nicht ins Gehege kommen sollten. Bei Rückstaus vor geschlossenem Bahnübergang hätten Fußgängerüberwege den Autoverkehr mehr als ohnehin schon behindert, und der musste ja fließen. Eine Unterführung wurde auch hier verworfen, der Untergrund sei zu sandig und eine Unterführung auch zu teuer. Die Erkenntnis, dass Menschen sich ober- und nicht unterirdisch fortbewegen können sollten, setzte sich erst Jahrzehnte später allgemein durch.
Schließlich wurde 1968 die "Fußgängerplattform Selterstor", im Volksmund "Elefantenklo", eröffnet. An allen vier Ecken sollte es direkten Zugang zu den Geschäftshäusern und natürlich in den Seltersweg hinein geben.
Jedoch, das schöne Architektenmodell litt an einem Geburtsfehler und war gleich ein Fall für die Tonne: Die Bebauung rund um das Selterstor war überhaupt nicht für die Plattform bereit. Weder das Schuhhaus Darré noch die diagonal gegenüberliegende als Solitärbau entworfene (spätere) Dresdner Bank hatten jemals einen direkten Anschluss ans Elefantenklo. Letzteres verbirgt das Modell auch gut. Karstadt bekam einen Zugang, aber erst zwanzig Jahre später, als das Kaufhaus bis an die Westanlage erweitert wurde. An der Ecke Südanlage wiederrum stand, seit Kriegsende leer und heruntergekommen, das traditionsreiche Café Hettler samt Nachbargebäuden, die, wenn alte Fotos nicht täuschen, sanierungsfähig gewesen wären. 1971 wurde alles abgerissen, auf dem Grundstück sollte ein Kaufhaus entstehen. Tatsächlich blieb es bis in die 90er Jahre unbebaut, ein öffentlicher und im Winter reichlich schlammiger Parkplatz.
Mit dem Bau des heutigen Gesundheitszentrums entstand an dieser Ecke der einzige Aufzug am Elefantenklo. Doch wie aus einem Guss wirkte die Anbindung nie. Der bröselnde Beton und die häufig defekten Rolltreppen, weil unter freiem Himmel und durch Vandalismus, Mütter, die im Schweiße ihres Angesichts Kinderwagen die Treppe hinaufwuchten, all das erinnert immer wieder daran, was für ein Murks dieses Bauwerk ist, zu recht ein Symbol für verfehlte Städteplanung und eindeutig ein Fall für den Misthaufen der Geschichte. Wer hier von "Gießener Wahrzeichen" redet, sollte sich in dem besagten Gesundheitszentrum untersuchen lassen.
Hochstraße und Fußgängerplattform - aus dem Schlaf der Vernunft geborene Monster. Das eine ist inzwischen wie der nächtliche Bi-ba-Butzemann verblasst, aber das andere treibt weiterhin sein Unwesen. Um einen alten Sponti-Spruch in Abwandlung zu bemühen:
Unter der Plattform
ja da liegt der Kreisel
Komm, tu auch du deins
für ihren Abriss mit dem Meißel...
Nachsatz
Der Gießener Ring ist nicht nur ein Verkehrsweg zur Vermeidung von Staus in der überfüllten Innenstadt. Niemals hätte eine Stadt von der Größe Gießens mit zu Beginn der 60er Jahre kaum 60.000 Einwohnern einen Schnellstraßenring dieser Art finanzieren können oder die Finanzierung dafür erhalten, wenn da nicht die US-Streitkräfte und ihr wichtiges Logistikzentrums, das General Depot, gewesen und der Gießener Ring im Kalten Krieg nicht auch ein militärstrategisches Bauwerk gewesen wäre. Dessen östlicher Abschnitt wäre im Ernstfall als Flugzeugstart- und Landebahn nur einen Steinwurf vom Depot in der Wieseckaue entfernt gewesen.
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