Teufelsverlustgärtchen: der unbekannte Stadtteil

Straßen- und Häuserplan ca. 1939 – 2020

Der Straßen- und Häuserplan ist keine geodätische Arbeit, basiert aber auf dem Stadtentwicklungsplan von 1948, der wiederrum die Häuser- und Grundstücksgrenzen der Vorkriegszeit wiedergibt. Es wird nicht zwischen Wohn- und Gewerbegebäuden unterschieden. Die Intention ist vielmehr, ein Gefühl für die räumlichen Zusammenhänge in diesem verlorenen Stück Gießen zu vermitteln. Hinzu kommen stockwerkgenaue Angaben aus Adressbüchern von 1927 bis 1954 sowie jeweils eine kommentierte Zusammenfassung. | Altstadtquartier

 

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Fortsetzung von Seite 1

Von Arno Baumgärtel unter Mitarbeit von Gunter Klug

Manfred Aulbach hat von 1950 bis 1959 einen Teil seiner Kindheit im Teufelslustgärtchen verbracht. Von ihm lernen wir, dass es – für unsereinen ungewohnt – gar nicht das Teufelslustgärtchen gegeben hat, sondern auch (halboffizielle) Benennungen wie "Am Teufelslustgärtchen" oder "Im Teufelslustgärtchen". Und ebenso gab es nicht nur die Löwengasse und die Katharinengasse, sondern "In der Löwengasse", "In der Katharinengasse" oder gar "In dem Katharinengäßchen". Tatsächlich, das städtische Urkataster, gegen Ende des 19. Jahrhunderts angelegt und mit Stand von etwa 1907, zeigt genau diese Benennungen. Und um die Verwirrung zu vergrößern, folgte die Hausnummerierung offenbar auch keinem allzu gut erkennbaren Schema, was die Zuordnung im Nachhinein nicht einfacher macht.

Das nebenstehende Luftbild aus den 20er Jahren zeigt grün markiert Seelbachs Garten, links davon (Rahmen) das von Manfred Aulbach (auf seiner Homepage) beschriebene "alte Haus von Rocky Tocky", Teufelslustgärtchen 18. Das Gebäude entstand vermutlich Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts und stand ungefähr da, wo heute der Haupteingang von C&A ist. Es hatte die Zerstörungen des Zweiten Weltskriegs überlebt. Die Bezeichnung entstammt dem amerikanischen Countrysong "This old House" von Stuart Hamblen aus dem Jahr 1954, dessen deutsche Version "Das alte Haus von Rocky Docky" 1955 von Bruce Low, aber auch von anderen Interpreten gesungen wurde.

In dieser Zeit bildete der Platz um das "alte Haus von Rocky Tocky", ein mehrstöckiges Wohnhaus aus gelbem Lehm, in dem Aulbach und seine Mutter sowie mehrere Mietparteien wohnten, das Herzstück des Quartiers, Aulbach nennt es auch "das Eck". Ein wesentlicher Teil des Teufelslustgärtchens war Seelbachs Garten, ein Grundstück von rund 1000 Quadratmetern. Wie Aulbach schreibt, wuchs darin "außer vielleicht ein(em) vereinsamte(n) Löwenzahn" und einigen holzigen Äpfeln so gut wie nichts mehr. Um den Garten herum verlief eine dunkelrote Backsteinmauer, die man "als ein Western-Fort" (Aulbach) ansehen konnte. Nur logisch, dass gerade dieses Gebiet mit seinen umliegenden Trümmergrundstücken ein einzigartiger Spielplatz für die Nachkriegsjugend war. Die suchte dort nach Metallresten und verkaufte sie für ein paar Pfennig an einen Schrotthändler. Zwischen dem Teufelslustgärtchen und der Katharinengasse befanden sich Gebäudereste und Schutthaufen. Diese Lehmberge "gehören zu meinen unumstößlichen Kindheitserinnerungen", schreibt Manfred Aulbach in einer persönlichen Mitteilung an die Autoren. Und: "... dass man im Winter Schlitten hinunterfuhr. ... Und offenbar vor 1954 gruben irgendwelche jungen Männer aus unserer Gegend, die öfter mal zwischenzeitlich auf dem Bau beschäftigt waren, die Eisenträger unter dem Lehm aus, die zu dem zerstörten Haus bzw. den Häusern gehörten – was für mich eine Überraschung war, dass diese alten Häuser Eisenträger hatten. ... Diese Eisenträger brachten aufgrund ihres Gewichts etliche Mark beim Schrotthändler ein. Danach baute auf dem später dann geglätteten Platz der Schreinermeister Ruch (Nr. 16) eine schicke Holzbaracke darauf, die ihm als Werkstatt diente."

Gießen verlor im Zweiten Weltkrieg bei mehreren Bombardierungen, je nach Quelle, zwischen 70 und 80 Prozent wertvolle historische Bausubstanz. Der schwerste Angriff war der am Nikolaustag 1944, der besonders die Gießener Altstadt mit ihren Fachwerkbauten rund um den Markt-, Kirchen- und Lindenplatz traf sowie nördlich und westlich davon. Andere Bereiche der Stadt innerhalb des Anlagenrings blieben von dieser großflächigen Zerstörung verschont, wenn auch im Einzelfall der Schaden sehr groß war, zum Beispiel die auf vielen alten Ansichtkarten zu sehenden Kuppelbauten am Selterstor. Das Teufelslustgärtchen als solches hatte auch unter den Kriegszerstörungen gelitten. Nördlich, entlang der Kaplansgasse und am Kreuzplatz lag alles in Schutt. Doch beinahe alle Häuser entlang der Bahnhofstraßen-Ostseite sowie das Gelände dahinter (späteres Kaufhaus Horten, heute C&A/Röder) und zahlreiche weitere Altbauten an der (alten) Löwengasse waren vielfach intakt, wenn auch natürlich heruntergekommen. Noch Anfang der 60er Jahre war das Viertel bewohnt. Nach Manfred Aulbach gab es im eigentlichen Teufelslustgärtchen aber nicht eine einzige Kneipe: "Das Rotlichtmilieu hat sich erst allmählich in den 60er Jahren in der Mühlstraße, Bahnhofstraße, Löwengasse eingebürgert."

Das von Volker Dräbing geschaffene Modell der Gießener Altstadt gibt den Zustand von 1935 wieder. Es wurde 1969 der Stadt übergeben. Im Bild unten die Ansicht von Süden. Am Bildrand oben die Kaplansgasse mit ihren Hinterhöfen, rechts der Seltersweg, die Plockstraße; links die Abzweigung vom Seltersweg ins Teufelslustgärtchen. Die Grünfläche in der Mitte ist Seelbachs Garten. Wie zu sehen, längst nicht alle Bereiche des Modells sind fertig "bebaut" worden. So ist das Teufelslustgärtchen nur der Fläche nach angedeutet. Es heißt, es habe schon Anläufe gegeben, das Modell um fehlende Bereiche zu ergänzen, doch der frühere Museumschef sei dagegen gewesen.

Aus der Luft, die Gießener Innenstadt Mitte oder Ende der 20er Jahre. Das Luftbild auf der vorigen Seite, die Johanneskirche im Vordergrund, verbirgt mehr, als man auf den ersten Blick glaubt, was an der Flughöhe und am Blickwinkel liegt. Die gründerzeitlichen Fassaden im Seltersweg ragen hoch und halten das bescheidene Quartier dahinter klein. Über die Bausubstanz erahnt man hier nichts.

Vor dem Zweiten Weltkrieg war das Teufelslustgärtchen ein Gießener Altstadtviertel, aber eins ohne bemerkenswerte Architektur oder Baudenkmäler. Die findet man eher im Seltersweg mit seinen Gründerzeithäusern und entlang der Bahnhofstraße, die – und nicht der Seltersweg – besonders in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg die Prachtstraße in Gießen war. Aber nicht nur am Seltersweg, auch an der Löwengasse hatten Fachwerkhäuser schon gründerzeitlichen, drei- bis vierstöckigen Gebäuden Platz gemacht.

Das Gebiet war schon im 15. bis 16. Jahrhundert besiedelt und wies eine mittelalterliche Struktur auf. Die Gebäude waren nicht durch Naturkatastrophen oder Kriege zerstört worden, und die Struktur des Viertels war deshalb relativ gut erhalten. Im Teufelslustgärtchen standen überwiegend kleine, unscheinbare Fachwerkhäuser, die meisten verputzt. Diese und zahlreiche Anbauten und Schuppen bildeten ein Gewirr von Gässchen, Hinterhöfen und Durchlässen. In einem Beitrag der "Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins" von 1964 beschreibt der Autor Erich Keyser eingehend die Entwicklung der Gießener Innenstadt um den Markt- und Kirchenplatz und kurz die westlich des Selterswegs bis zur Löwengasse: "Da das Siedlungsbild nordwestlich der Löwengasse und östlich der Bahnhofstraße völlig anders gestaltet ist als zwischen der Löwengasse und der Westanlage, scheint jene Fläche längere Zeit fest umgrenzt gewesen zu sein; es ist zu vermuten, daß dies durch eine, wenn auch nicht gemauerte, Befestigung geschah. Das Teufelslustgärtchen lag innerhalb dieser Begrenzung."
Es könnte sich demnach ursprünglich um ein Dorf in bzw. vor der Stadt gehandelt haben. Bis etwa Mitte des 17. Jahrhunderts befand sich die Stadtmauer auf Höhe der Sonnenstraße, der Kreuzplatz lag damals genau außerhalb davor. Kartenwerke aus der Zeit scheint es nicht zu geben, allenfalls Stiche mit Ortsansichten. Die Festung Gießen wurde in dieser Zeit stetig erweitert, die Wälle wurden ausgebaut. Denkbar, dass das Areal des Teufelslustgärtchens dann innerhalb der Festung lag und mithin zur Stadt gehörte.

LINKS UM 1750, RECHTS UM 1792

Die Karten, links um 1750, rechts um 1792, zeigen unten die Bastion (Schanze) Selterst(h)or. Von dieser Art Verteidigungsanlagen gab es mehrere rund um die Stadt. Das Teufelslustgärtchen ist gelb markiert. Bereits verzeichnet sind die (alte) Katharinengasse und die Löwengasse. Wie historisch genau die Karten im Detail auch sein mögen, es scheint, dass die Bebauung des Teufelslustgärtchens um 1792 sich gegenüber dem Zustand 40 Jahre früher verdichtet hat. Ein signifikanter Unterschied: Im Bereich zwischen der Wolken- und der Löwengasse (heute der Standort des Karstadt-Parkhauses) blieb die Bebauung bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts relativ offen und locker.

Gießen – "Shanghai an der Lahn" – der Satz, 1950 in einem Artikel in der Boulevardzeitschrift Quick (zeitweilig die größte Konkurrenz zum Magazin Stern), war prägend für die Diskussion um den Wiederaufbau der Stadt. Diese, auf neudeutsch: catch phrase vom "Shanghai an der Lahn" tat ihre Wirkung und lieferte das eine oder andere Mal die willkommene politische Begründung für den vom Gießener Magistrat betriebenen Radikalumbau der Innenstadt durch Flächenabriss. Dabei ging es in dem dürren Artikel, der nicht einmal eine ganze Zeitschriftenseite füllt, aber mit großformatigen Fotos versehen ist, nur in zwei Zeilen um Prostitution und um die große Zahl von US-Soldaten in der Stadt und überhaupt nicht um die damit einhergehende Kriminalität links und rechts der Gießener Bahnhofstraße. Thema sind Flüchtlinge aus der "Ostzone", aus der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), und die "Odyssee der Heimatlosen", also Gestrandete im demokratischen Westen.

Der Wiederaufbau – ein gern genutztes Argument – habe schnell vor sich gehen müssen, deshalb habe man die Altstadt nicht wiederaufbauen können. Das ist bestenfalls die halbe Wahrheit. Wahr ist, die Bausubstanz der Gießener Altstadt war schon Anfang des 20. Jahrhunderts schlecht, viele Gebäude waren vom Verfall gezeichnet, was aber kein Gießener Alleinstellungsmerkmal war. Einigermaßen berühmt geworden ist das von den Einheimischen "Krachenburg" genannte Anwesen in der Neuen Bäue. Hausabrisse hatte es schon vor 1930 gegeben, zum Beispiel die Löwengasse 27, ein größeres Fachwerkhaus, auf dem (großen) Luftbild die Baulücke oben links vor der weißen Brandmauer des Hauses Bahnhofstraße 23. Das Grundstück blieb von da an unbebaut. An anderer Stelle der Innenstadt verschwand bei Sanierungen die nahe der Dammstraße gelegene Zozelsgasse komplett. Und bei der von den Nazis durchgeführten Altstadtsanierung ab Mitte der 30er Jahre wurden marode Fachwerkgebäude teilweise durch Neubauten ersetzt. Die althergebrachten und unübersichtlichen Hinterhauslagen wurden aus Gründen der "Volkshygiene" eingeebnet. Ensembleschutz war auch nicht das Anliegen der Nazis, sondern die Sicherung ihrer Macht und die Vorbereitung auf den Krieg, unter anderem mit dem Bau von Luftschutzkellern.

Die Gießener Altstadt sollte nicht wieder aufgebaut werden, auch nicht in Teilen. Das hätte der Politik und Philosophie des Nachkriegsstädtebaus und damit verbunden der Verkehrsplanung im Weg gestanden.

Als es Ende der 40er Jahre an den Wiederaufbau ging, standen das Areal der vernichteten und teilzerstörten Altstadt um den Markt- und Kirchenplatz wie auch das Viertel um das Teufelslustgärtchen im Fokus von wirtschaftlichen Interessen. Die erste Kommunalwahl nach dem Krieg erbrachte eine Koalitionsmehrheit aus CDU und FDP. Oberbürgermeister wurde der FDP-Politiker Otto-Heinz Engler, der sogleich, wie Heinrich Schmidt in seinem "Beitrag zum Wiederaufbau der zerstörten Stadt" schreibt, "engergisch" den Wiederaufbau voran trieb. Schmidt weiter: "Auch die Kaufmannschaft der Innenstadt wollte gegenüber den Nachbarstädten und Konkurrenten Wetzlar und Marburg das verlorengegangene Terrain rasch wieder zurückgewinnen, das diesen wegen geringerer Bombenschäden zugefallen war."

Damit war ein Pflock gesetzt, dass nichts wieder so werden würde, wie es – baulich betrachtet – gewesen war. Freilich ist das Argument des "verlorengegangenen Terrain(s)" aufgrund der Städtekonkurrenz ein nachgeschobenes aus dem Rückblick weit über 30 Jahre später. Zwar war Gießen als Garnisonsstadt sowie durch die Universität, die Klinik und einige Industriebetriebe und als Eisenbahnknotenpunkt bedeutsam. Aber niemand vor dem Krieg ist zum Einkaufen von Wetzlar nach Gießen oder von Marburg nach Wetzlar gefahren; schon gar nicht mit dem eigenen Auto. Private Kraftfahrzeuge waren im Deutschen Reich und besonders im ländlichen Raum selten. Die beiden Universitäten waren zu der Zeit Eliteeinrichtungen für wenige, erst Mitte der 60er Jahre wurden sie zu Massenuniversitäten. "Oberzentrum", "Mittelzentrum" – diese modernen wirtschafts- und regionalpolitischen Begriffe gab es nicht. Das erwartbare Wirtschaftswunder nach der Währungsreform 1948 mit der Einführung der D-Mark, die Aussicht auf mehr Kaufkraft und die Mobilität breiter Bevölkerungschichten, die vor dem Krieg eher gering gewesen war, durch die nunmehr startende Motorisierung mit dem "Volkswagen", das waren die treibenden Kräfte für den Stadtumbau. Warum sonst hätte man Innenstadtstraßen breiter als nötig machen und Flächen frei räumen sollen, wenn nicht, um Platz für PKWs zu schaffen?

Ein zweiter wichtiger Pflock war die mit dem Hessischen Aufbaugesetz (HAG) von 1948 beschlossene neue Gesetzeslage. Das darin enthaltene "Baulandumlegungsverfahren" bestimmte, dass Enteignungen von Immobilienbesitzern zugunsten der jeweiligen Kommune möglich waren, wenn und sobald neues Bodenrecht geschaffen werden sollte. In diesem Verfahren wurden alle in Frage kommenden Grundstücke samt der öffentlichen Wege und Straßen (nach Schmidt) "zu einer 'Masse' vereinigt und – bildlich gesprochen – in einen Topf geworfen." Was als öffentliche Fläche (z.B. Parkplatz) vorgesehen war, wurde der Kommune übereignet. Schmidt: "Der Rest wird an die seitherigen Eigentümer im gleichen Verhältnis verteilt, wie deren Grundstücke bei der Einleitung des Verfahrens nach Größe, Wert und Lage zueinander standen." Zudem bestimmte das Gesetz, dass neu gebildete Flächen auch "bebauungsfähig" zu sein hatten. Viele Innenstadtgrundstücke waren aus planerischer und betriebswirtschaftlicher Sicht unrentabel, ihre Zuschnitte waren sehr klein. Haus- und Grundstückseigentümer waren überdies im Krieg umgekommen, verschollen oder standen vor dem wirtschaftlichen Ruin und mussten nun verkaufen. Somit war klar: Wer viel hatte, bekam auch viel, wer nicht viel oder verstreuten Grundbesitz hatte, ging weitgehend leer aus. Im Zuge von Flächensanierungen wurden darum überall in der Innenstadt Grundstücke zusammengelegt und ganze Straßenverläufe verändert, einerseits natürlich, um die Geschäftswelt wieder auf Vordermann zu bringen und andererseits, um die Stadt autogerecht zu machen.

Schon im Dritten Reich hatte es Sanierungspläne für den Bereich um den Seltersweg gegeben, die nun teilweise wieder aufgegriffen und umgesetzt wurden. Diesmal nicht aus Gründen der "Volkshygiene", sondern um der gewerblichen Andienbarkeit der rückwärtigen Seltersweg-Grundstücke willen wurde eine breite Entlastungsstraße für den Seltersweg trassiert und bis zur Wolkengasse verlängert. Ihr Verlauf folgt ein Stück weit ungefähr dem ursprünglichen Teufelslustgärtchen, und sie trug auch zunächst den Namen Teufelslustgärtchen, danach und bis heute Katharinengasse. Noch heute ist die Einschnittstelle für diese Schneise an der Ecke der Rest-Wolkengasse gegenüber dem City-Center zu sehen. Die alte Katharinengasse, die früher nur zwischen der Kaplansgasse und der Löwengasse parallel zur Bahnhofstraße verlaufen war, verschwand dagegen komplett unter dem ab 1974 errichteten Kaufhaus Horten (C&A/Röderpark). Die ursprüngliche Planung auf dieser Fläche sah ein von privaten Investoren gebautes Parkhaus vor. Der Plan zerschlug sich letztlich aus politischen Gründen. Die – eigentliche – Straße Teufelslustgärtchen mutierte in der Folge zum ständig größer werdenden Großparkplatz, je mehr Häuser im Lauf der 60er Jahre der Baggerschaufel zum Opfer fielen. Nach den letzten Häuserabrissen wurde die Löwengasse begradigt und ihr Verlauf mit dem Bau des Kaufhauses leicht verschwenkt. Die Kleinteiligkeit der früheren Altstadt, die "differenzierte Welt", wie Manfred Aulbach in seinen Erinnerungen schreibt, ging verloren, eine "weitere Verödung der Welt".

ABRISS VON TEUFELSLUSTGÄRTCHEN 28 (LINKS AN DER ECKE LÖWENGASSE), DAS HAUS RECHTS DANEBEN NR. 26

"Ohne hoheitlichen Eingriff der Baulandumlegung", auf freiwilliger Basis, anerkennt Schmidt, der bereits vor dem Krieg in der Gießener Stadtverwaltung tätig und Leiter des Liegenschaftsamtes gewesen war, hätte die Neuordnung der Liegenschaftsverhältnisse in der Innenstadt nicht funktioniert. Nicht alle Bereiche der Gießener Innenstadt zwischen der Goethestraße und dem Kreuzplatz wurden auf einen Schlag niedergelegt und neu bebaut. Es war ein Vorgang, der Jahre dauerte und der wegen der salamitaktischen Vorgehensweise aus Sicht der Bevölkerung wie ein natürlicher Prozess erscheinen musste. Die Stadt selbst kaufte Immobilien zum späteren Abriss auf. Man wusste, was man tat.

Die Einkaufsstadt und wie sie in die Welt kam. Nach der Vorstellung des Gießener Magistrats sollte es zukünftig innerhalb des Anlagenrings nur noch Park- und Kaufhäuser, aber keine Wohnbevölkerung mehr geben. Der Off-Kommentar:

"Bei der Stadtsanierung strebt man andere Lösungen an. Hier geht es vor allem um die Schaffung von Parkplätzen und Straßen. Acht Gebäude in Gießens Innenstadt werden zurzeit abgerissen. Die Stadt erhält für ihre Sanierungsmaßnahmen keine Zuschüsse. An diesem Platz (= Teufelslustgärtchen) wird in Zukunft ein Parkhochhaus stehen. Fünf Parkhäuser sind insgesamt geplant. Auch die neue Durchgangsstraße wird hier vorbeiführen. Gießens Stadtplaner wollen im Zentrum keine Wohnhäuser mehr zulassen. Die heutige Altstadt soll ein Einkaufszentrum werden, das nur den Fußgängern gehört. Die Verwandlung der Innenstadt wird Jahre dauern. Hotelneubauten, Hochhäuser und Kaufhäuser bestimmen dann die Gegend des Teufels[lust]gärtchens. Mit den Abbrucharbeiten wurde schon begonnen. Gießens Bürger stehen der Altstadtsanierung aufgeschlossen gegenüber, bisher gab es keine Streitigkeiten."

In dieser hr-Reportage vom 08.01.1965 ist der Abriss von Teufelslustgärtchen 28 und 26 im Jahr 1964 dokumentiert. Oberbürgermeister Bernd Schneider, SPD (1963 - 1977), erklärt in dem Bericht, dass man eine Entlastungsstraße – die neue Katharinengasse – für den Seltersweg bauen wolle, der Seltersweg solle später zur Fußgängerzone werden. So ein Aufmarschgebiet der Kauflustigen, eine Shopping Mall unter freiem Himmel ohne Einwohnerschaft, hätte Hitlers Stararchitekt Albert Speer zu Ehren gereicht. Proteste gegen diese Stadtplanung mit der Spitzhacke gab es zu der Zeit noch nicht oder nicht in nennenswertem Ausmaß.

Straßen- und Häuserplan oder direkt: Katharinengasse Löwengasse Teufelslustgärtchen Kaplansgasse

Umgebung: Bahnhofstraße Seltersweg

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Recherche: Gunter Klug, Arno Baumgärtel
Grafische Bearbeitung: Arno Baumgärtel
Quellen:

Erich Keyser, "Die städtebauliche Gestaltung Gießens im Mittelalter";
veröffentlicht in den Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins (MOHG) 48, 1964
Heinrich Schmidt, "Wandlungen der Innenstadt Giessens"; in: MOHG 66, 1981
Heinrich Schmidt, "Beitrag zum Wiederaufbau der zerstörten Innenstadt Giessens nach 1945"; in: MOHG 76, 1991

Josef Nipper, "Gießen im Wiederaufbau. 15 Jahre zwischen Planung und Realität"; in MOHG 81/1996
Stadtentwicklungsplan von 1949, veröffentlicht in: MOHG 66/1981.
Urkataster der Stadt Gießen im Landesgeschichtlichen Informationssystem Hessen unter https://www.lagis-hessen.de/
Manfred Aulbach (online) https://www.aulbach-giessen.de/html/um_1956.html sowie https://www.aulbach-giessen.de/html/teufelslustgartchen_-plan-.html
Fotos aus unterschiedlichen im Internet zugänglichen Quellen; sofern bekannt, sind die Urheber hier namentlich aufgeführt.
Das digitale Abbild der Stadt Gießen im Mesh-Format basiert auf Daten der Luftbildbefliegung im März 2020. Vermessungsamt Gießen

Wir danken dem Stadtarchiv Gießen für die Zurverfügungstellung von Fotos aus der Sammlung Metzger, und hier insbesondere Frau Weiershäuser für ihre freundliche Mitarbeit.
Wer Fotos ohne Hinweis auf die eigene Urheberschaft erkennt, sollte nicht zögern, uns das mitzuteilen!
Literatur:
Norbert Schmidt (Hg.), Marina Gust, Hans-Peter Gumtz, "Vom Spielwaren Fuhr bis zum Scarabée. Neue Geschichten und Anekdoten aus dem Gießen früherer Jahre", Wartberg Verlag 2008, ISBN 978-3-8313-1909-1
Peter Kurzeck, "Und wo mein Haus? Kde domov muj", Band 8 von "Das alte Jahrhundert", Hrsg. Rudi Deuble, 2022, Schöffling & Co. 978-3895616938, ISBN 978-3895616938
Peter Kurzeck, "Keiner stirbt", Suhrkamp-Taschenbuch 3229, Frankfurt 2000, ISBN 978-3895616976
Beides sind literarische Verarbeitungen von Kurzecks Erinnerungen, das "Shanghai-Viertel" kommt in beiden Büchern am Rande vor, ist nicht Hauptthema, bietet aber wunderbare atmosphärische Einblicke in das Leben im Quartier.

Arno Baumgärtel
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