THE CHIMES OF BIG BEN
DIE GLOCKEN VON BIG BEN

 

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Produktionsbedingte verzögerungen führen zu unterschieden in der US- und
GB-reihenfolge. Die deutsche weicht wiederrum und ohne ersichtlichen grund davon ab.
Die listung der episoden
entspricht der sog. englischen standard-reihenfolge.
Handlungslogisch betrachtet erfordern die episoden von NUMMER 6 keine zwingende abfolge. In praktisch allen ländern, in denen NUMMER 6 lief, gab es eigene reihenfolgen.

Mehr zur episodenreihenfolge...

 

 

"I AM NOT
A NUMBER.
I AM
A PERSON."

"SIX OF ONE,
HALF A
DOZEN OF
THE OTHER."

 

 

DREHBUCH: Vincent Tilsley
REGIE: Don Chaffey
DEUTSCHE EPISODE nr. 11
DEUTSCHE FASSUNG: Joachim Brinkmann
DEUTSCHE ERSTSENDUNG: ZDF 14.03.1970

MEHR: DIE TITEL
SYNCHRONREGIE: JOACHIM BRINKMANN
THIS PAGE IN ENGLISH

EPISODENWÜRDIGUNG

Eine kunsthandwerkliche ausstellung wird im Ort eröffnet. Nummer Sechs stellt sein exponat mit dem titel "Flucht" vor und erregt damit bei Nummer Zwei große heiterkeit. Nadia, eine neue mitgefangene, schlägt ihm einen fluchtplan vor. Obwohl misstrauisch, geht Nummer Sechs darauf ein. Eine lange reise liegt vor ihnen. Im büro seines ehemaligen vorgesetzten merkt er schließlich, dass man doch nur das eine von ihm wissen will.

PLATZ 16 Ein großartiger Leo McKern als Nummer Zwei rettet eine ansonsten durchschnittliche episode. Wissen wir nun besser, wo der Ort ist?

 

Lesen Sie nur dann weiter,
wenn Sie NUMMER 6 bereits kennen
und sich näher mit hintergründen,
der produktionsgeschichte, therorie und diskussion
beschäftigen wollen.
-
Wir sehen uns!

Von Arno Baumgärtel

"Big Ben" war die erste studiobasierte produktion nach dem vor-ort-drehtermin in Portmeirion im spätsommer 1966. Von dem dort entstandenen filmmaterial findet sich hier fast nichts wieder. Die handlungsrelevanten außenaufnahmen entstanden auf dem studiogelände in Borehamwood, in dem, was Roger Langley den "verlorenen zweiten Ort von NUMMER 6" [1] nennt. Denn die außenkulissen mit dem markanten dorfplatz und dem baum darauf wurden vor allem auch in "A. B. und C.", "Der Doppelgänger" sowie in "Harmony" genutzt.

Studiokulissen und gemalte hintergründe stellen teile von Village-gebäuden nach. In den tagen des schwarz-weiß-fernsehens und noch geraume zeit danach war das gängige praxis. Dieses vorgehen findet man vor allem in den episoden "Der Doppelgänger", "Das Amtssiegel", "Sinneswandel", "Der General", "A. B. und C." sowie auch in "Hammer oder Amboss". Interessant zu sehen, wie unterschiedlich die qualität der inszenierung "drinnen für draußen" ausfällt. Im "Doppelgänger" gut, in "Sinneswandel" dagegen reichlich mau.

NUMMER 6 wurde auf McGoohans betreiben auf 35-millimeter-kinofilm gedreht [2], was für die zeit außergewöhnlich und natürlich teuer war. Man sagt, das team habe nie das wort "fernsehproduktion" benutzt. Fernsehserien entstanden auf 16-millimeterfilm, viele davon bis mitte der 60er jahre in schwarz-weiß. Und auch nach einführung des farbfernsehens in Deutschland (1967) wie in Europa konnten sich viele haushalte die teuren farbfernsehgeräte zunächst kaum leisten und sahen NUMMER 6 in schwarz-weiß. Die übergänge von realen außenaufnahmen vor ort zu denen im studio fielen da, willkommener nebeneffekt, kaum oder gar nicht auf. Die unschönen nachteile

LINKS: DIE KAMERACREW MIT SCHATTENWURF
RECHTS:
SZENE AM STUDIOSTRAND FÜR "DIE GLOCKEN VON BIG BEN"

dieses verfahrens zeigen sich aber schon auf einem röhrenfarbfernseher. So beeindruckend die 35-mm-aufnahmen aus Portmeirion auch sind, der kontrast dieser opulenten bilder zu den "außenaufnahmen" aus dem studio schadet der illusion beträchtlich. So erkennt man bei geöffneter wohnungstür von 6 private den gemalten hintergrund. Besonders krass aber der unterschied von tages- und kunstlicht, mit spitzlichtern, d.h. reflexionen der studioscheinwerfer auf dem wasser und auf der oberfläche von Rover. Ähnlich unangenehm auffallend wie unter den füßen der darsteller verrutschender kunstrasen ist der schattenwurf der kameracrew, als Nummer Acht von vier Rover-ballons an land gezogen wird. Die detailfreudigkeit des DVD- und erst recht des BluRay-bildes bringt zu bewusstsein, wovon man zu der zeit ausging, nämlich dass fernsehzuschauer es nie zu gesicht bekommen würden.

ÜBER DEN VERLORENEN ZWEITEN ORT VON NUMMER 6
STUDIO DAYS - DAS MGM-STUDIOGELÄNDE IN BOREHAMWOOD
LOST & FOUND: DIE ALTERNATIVEN "GLOCKEN VON BIG BEN"
MEHR: QUADRATUR DES KREISES

Der eigentliche dreh der handlung ist der fluchtplan mit Nummer Acht. Eine agentin derjenigen kräfte, die Nummer Sechs entführt haben, und eine mit namen: Nadia Rokovsky; bewohnern mit namen sollte man eher nicht vertrauen. Um sie soll er sich kümmern. Das ist pikant, weniger, weil Nummer Sechs recht arglos ist, sondern weil er damit auf "der anderen seite" stünde und er, so die vorstellung von Nummer Zwei, einmal an diesem einen kleinen unscheinbaren punkt nachgegeben, auch bei anderen fragen kooperativer wäre. Zwar hat Nummer Sechs anderes, nämlich die flucht, im sinn, sagt aber schließlich zu. Der vermutlich von Nummer Acht und maßgeblichen leuten seiner früheren dienststelle ausgeheckte plan baut genau darauf auf. Nadias kontaktmann Karel, der die beiden schon erwartet, ist niemand anders als der vom Supervisor angerufene "posten nr. 5". Am ende ist Nummer Sechs moralisch sichtlich geschlagen. Entsprechend desillusioniert sehen wir ihn aus dem gebäude gehen, das nicht wie erwartet in London steht, sondern an einem wohlbekannten ort.

"In diesem ort wacht man auf und ist da. Leute, die einen ganz bestimmten job aufgegeben haben, die abgefallen sind oder die ausgestoßen wurden. Deren ungewöhnliche kenntnisse von außerordentlichem wert sind für die eine oder die andere seite. Sind sie sicher, dass sie nicht so einen ort haben...?" [ZDF-fassung von 1969]

Der so befragte ist einer seiner früheren vorgesetzten. Nirgendwo mehr in der serie als hier zeigt sich, dass die eigene seite mehr in die vorgänge um seine entführung verwickelt sein muss, als einem lieb sein kann.

"Die Glocken von Big Ben" war die fünfte produzierte episode und wurde in vielen britischen senderegionen als zweite ausgestrahlt. Nummer Sechs' arglosigkeit, mit der er sich auf Nadia und auf den fluchtplan eingeschworen hat, spricht dafür, die episode wie in der britischen "standardreihenfolge" als zweite zu platzieren, weil man annehmen darf, dass er relativ neu im Ort ist. In Deutschland war "Big Ben" erst die elfte episode.
Allerdings gibt es eine parallele: Hierzulande war "Herzlichen Glückwunsch" die zweite ausgestrahlte folge. Auch da flieht Nummer Sechs und erreicht London wirklich, um sich sodann auf die suche nach dem ominösen Ort zu begeben. Mit einem erneut niederschmetternden ausgang.
PRISONER-autor Chris Gregory hat auch diesen aspekt vor augen, wenn er in seiner sehr guten beobachtung schreibt: "Die behauptung, der Ort befinde sich 'in Litauen, nahe der polnischen grenze' erscheint im besten fall als dubios. Aus den bildern von flugzeugen, lastwagen und auf schiffe verladenen containern können wir einzig schließen, dass sie 'subjektive' einstellungen sind und uns das zeigen, was Nummer Sechs erwartete, was passieren würde. Auf die weise fangen wir vielleicht an zu fragen, wie viel von dem, was wir sehen, real und wie viel tatsächlich eine projektion unseres titelhelden ist. Zurück bleibt das nagende gefühl, dass wir beinahe selber in die manipulation hineingeraten wären, und zwar wider die erkenntnis, dass es in einer serie mit dem titel DER GEFANGENE einfach zu früh ist, dass die hauptfigur entkommt. Und obwohl 'Die Glocken von Big Ben' konventionelle muster des 'geheimagenten-genres' nutzt, stehen wir am ende mit mehr fragen als antworten da und beginnen uns zu fragen, ob das hier überhaupt eine 'spionagegeschichte' ist.' [3]

Die frage wird sich dem publikum angesichts von episoden wie "Die Anklage", "2:2=2" und erst recht "Harmony" immer wieder stellen.

Natürlich Nummer Zwei. Natürlich Leo McKern. Von vielen freunden der serie wird "Die Glocken von Big Ben" als die "rundeste" episode geschätzt, was verständlich ist. Und dies trotz der eher mäßigen, löchrigen story mit einer lächerlich inszenierten flucht, aber im verein mit den schauspielkünsten und hier eben besonders der auftritt von Leo McKern.

Sieht man von den "regulars" Patrick McGoohan als Nummer Sechs, Angelo Muscat als Butler und etwa Peter Swanwick als Supervisor ab, hat McKern als Nummer Zwei in nahezu allen über die jahre getätigten beliebtheitsrankings stets ganz vorne gelegen.

"Wenn man das so ansieht, wie er sich seinen morgenmantel anzieht, dann sieht das auch schon nach widerstand aus." [ZDF-fassung] Was McKern hier über Nummer Sechs sagt, könnte er auch in "Pas de deux" sagen und umgekehrt.
Die anwesenheit von Leo McKern als derselbe charakter auch in der vorletzten episode "Pas de deux" sorgt für ein einzigartiges - man müsste sagen: individuelles - kontinuum. Kein wunder, "Pas de deux" entstand unmittelbar nach "Big Ben". McKern hat eine präsenz, die man einer Nummer Zwei absprechen würde, da diese eigentlich nur statthalter (von Nummer Eins) sind und aufgaben zu erfüllen haben. Er ist jovial, aber nicht nur - er agiert wie ein wirklicher mensch mit stimmungen, nicht wie eine sprechpuppe oder ein zerrbild, wie es Patrick Cargill in "Hammer oder Amboss" (wenn auch amüsant) abliefert. Eine gegenseitige wertschätzung zwischen Nummer Sechs und Nummer Zwei liegt in der luft.
In der realität war das verhältnis McKern - McGoohan leider getrübt. McGoohan-biograf Roger Langley schreibt, McKern sei von McGoohans art wenig begeistert gewesen, und zwar derart, dass NUMMER 6 in seiner autobiografie nicht einmal erwähnt werde, obwohl er ja in drei episoden mitwirkt. Hin und wieder äußerte McKern sich dann doch über die künstlerische qualität der serie: "Ich glaube nicht, dass McGoohan sich jemals um details gekümmert hat. Die idee hatte eine enorme bandbreite und war, aus meiner sicht, brilliant." Und bei gelegenheit: "Es war fast unmöglich, mit ihm zu arbeiten, ein furchtbarer tyrann. Immerzu am rufen, schreien und brüllen, er war ein antreiber und sparte am geld. Es hat großen spaß gemacht, obwohl es die hölle war, mit ihm zu arbeiten. Die ganze zeit gab es einen furchtbaren druck, wurde man angeschrien. Ich bin depressiv geworden." [4]

In "Pas de deux" messen sich die beiden erneut, reiben sich regelrecht aneinander auf, und zwar derart intensiv, dass McKern während des drehs einen nervenzusammenbruch erlitt. Folglich wollte er in "Demaskierung" nicht mehr, wie von McGoohan gewünscht, auftreten. McGoohan, schreibt Langley, bat daraufhin schauspieler Alexis Kanner, McKern zu überzeugen. Der willigte ein, bat jedoch Kanner, ihm beizustehen und auf ihn aufzupassen. Was Kanner auch tat. Schließlich tritt McKern in "Demaskierung" mit kurzem haarschnitt und ohne den wilden bart auf, sodass eine rasurzeremonie für die handlung eingebaut werden musste. McKern/Nummer Zwei spricht daraufhin die ersten worte nach seiner wiederbelebung, und nicht ohne doppelsinn: "Ich fühle mich wie ein neuer mensch."

"Es bedeutet, was es ist." Ein stück weit bleibt offen, ob der kunsthandwerkliche wettbewerb eine im wesentlichen gegen Nummer Sechs gerichtete operation ist. Wie hätte Nadias fluchtplan ohne den wettbewerb ausgesehen? Schließlich konnten auch die gemeinnisvollen herrscher des Ortes

nicht voraussehen, welches exponat - und zu welchem zweck - er herstellen würde. Immerhin, der auf sechs wochen dauer angelegte wettbewerb spielt Nummer Zwei in die karten; zeit genug, die pläne anzupassen. Er wurde von seiner Nummer Acht sicher auf dem laufenden gehalten.

Die von Village-bewohnern für den wettbewerb vorgestellten exponate lassen, zum wohlgefallen von Nummer Zwei, wenig zweifel an der künstlerischen unkonformität ihrer schöpfer. In einer totalitären gesellschaft wird dem herrscher gehuldigt. Aber nein, nicht unwahrscheinlich, diese Nummer Zwei ist unter den bewohnern (insassen) des Ortes wirklich beliebt. "Flucht" - das werk von Nummer Sechs, eine abstrakte skulptur, von dem man gesehen hat, dass kunst immer auch handwerk und technik bedeutet, ist natürlich purer hohn und erringt folglich höchstes lob von Nummer Zwei: "Es bedeutet, was es ist. Brilliant."

Ehrliche begeisterung, auktorialer kommentar oder ironische affirmation des schöpfers aus dem off? Jedenfalls nicht das einzige mal in der serie, dass kunst thematisiert wird. Und in jedem fall war es McGoohans in der öffentlichkeit wiederholtes credo über seine serie. Das schöne daran ist das ineinanderfließen der übergänge.

Baltikum oder Balkan? Aus deutscher sicht ist "Die Glocken von Big Ben" die episode mit dem größten nicht rein sprachlichen eingriff.

Bereits in der ersten episode weicht die deutsche fassung deutlicher als sprachlich geboten vom original ab. Der verkäufer im laden spricht mit einer kundin Deutsch, im original benutzt er eine nicht identifizierte sprache (es ist nicht walisisch). In "Die Anklage" wird die handlung in der deutschen fassung sogar rationalisiert, der deutsche ton dichtet ohne not etwas von einem "wilden streik" hinzu. Auch in "Herzlichen Glückwunsch" kommt es zu einer deutlichen abweichung vom o-ton: Die waffenschmuggler sind namenlos, im original heißen sie Gunther und Ernst und sprechen auch Deutsch.

Hier nun wird um die geografische lage des Ortes gemutmaßt. Die deutsche version verlegt dabei Nummer Sechs' und Nadias fluchtweg vom 1966 politisch-

DEUTSCHE FASSUNG ORIGINALFASSUNG
Nachts, vor dem haus von Nummer Sechs; Nummer Sechs (P.)
und Nadia (Nummer Acht)
P. "Wo sind wir, Nadja?" "Where are we now, dear?"
N. "In Bulgarien." "Lithuania"
Village Voice: "Der Tag ist vorbei." "Curfew time - one minute."
P."In Bulgarien?" "Lithuania …"
Village Voice: "In einer Minute. In 60 Sekunden." ---
P. "Auf dem Balkan? Das bedeutet, wir müssen nach Griechenland, in die Türkei. Das kann ein ganzes Stück sein, 200 Kilometer." "On the Baltic. That means making for West Germany, Denmark …
That's 300 miles, at least."
N. "So weit ist es nicht." "It doesn't have to be."
P. "Wie weit ist es?" "Why not?"
N. "Wir müssen nur in die Nähe der türkischen Grenze." "We're nearer - in Poland, Danzig."
N. "Nehmen Sie mich mit, bin ich bei Ihnen sicher?" "Will you take me with you? Will I be safe?"
P. "Ich kann für die englischen Behörden nicht garantieren. Für uns beide nicht." "I can't answer for the British authorities… for either of us."
N. "Aber Sie helfen mir?" "Can you answer for you?"
P. "Ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich Ihnen helfe. Wenn Ihnen das etwas bedeutet." "I give you my personal guarantee. For whatever that's worth."
N. "50 Kilometer, nicht ganz." "30 miles, that's all."
P. "Wie?" "What?"
N. "Ja, so weit ist es bis zur türkischen Grenze. Kurz davor, an der Küste, liegt ein kleines Dorf, Woradje. Einfache Fischer. Sie sind gegen das Regime. Sie leisten Widerstand. Ich kenne da auch einen türkischen Kontaktmann. Er würde alles für uns tun, bestimmt." "That's how far we are from the Polish border. Beyond, on the coast, there's a little village, Braniewo, Fisher people. They resist them. There's a little group, I know them. I have a contact man, he'll do anything for us, once we get there."
Vor einer höhle am strand: Nummer Sechs,
Nadia (Nummer Acht) und Karel
P. "Welche Route nehmen wir?" "What route are we taking?"
N. (übersetzt in fremde Sprache) ---
K. "Ich verstanden. Äh, Schiff, Türkei, Istanbul, verstanden? Dann Flugzeug, Athen. Wieder Flugzeug, Paris. Dann London." "I understand. By sea - Gdansk, Danzig, you know. By air to Copenhagen, by air again to London."

militärisch zum einflussbereich des Warschauer Paktes gehörenden Baltikum, Litauen, nach Bulgarien. Den verantwortlichen schien ein ort wohl unverfänglicher zu sein, der schon seit Karl Mays geschichten aus dem 19. jahrhundert - "In den Schluchten des Balkan" (buchtitel) - abenteuertechnisch ganz anders vorbelastet war als das ehemals deutsche territorium um Ostpreußen und noch weiter dahinter. Schließlich war Danzig seit dem ende des Zweiten Weltkrieges polnisches hoheitsgebiet. In (west-) deutschen schulatlanten fand sich bis zum deutsch-polnischen vertrag von 1990 stets der vermerk "unter polnischer verwaltung". Bloß nicht dran rühren: Sollte hier gegenüber dem deutschen publikum jeglicher tagespolitische bezug herausgehalten werden? Man kann über die beweggründe für diese änderung nur spekulieren. Folgerichtig blieb deutschen zuschauern nach diesem gravierenden geopolitischen eingriff auch ein filminsert vorenthalten, das auf der transportkiste für Nummer Sechs und Nadia einen zettel mit der reiseroute zeigt: LONDON VIA DANZIG & COPENHAGEN.

Entsprechend unwegsam sind die routen, die Nummer Sechs und Nadia in den jeweiligen sprachfassungen zurückzulegen haben. Unwegsam bis unmöglich.

Der Ort liegt laut Nadia in Litauen, 48 kilometer bis zur polnischen grenze. Die beiden flüchten in ihrem improvisierten kahn aufs meer und an der küste entlang, bis sie außer reichweite von Rover sind. Geografie mangelhaft, könnte man nun sagen. Zum einen bewegen sie sich auf dem bildschirm von rechts nach links, also von westen nach osten. Zum anderen haben Litauen und Polen keine gemeinsame seegrenze. Die landgrenze zwischen beiden ländern ist etliche hundert kilometer entfernt. Dazwischen befindet sich die russische exklave Kaliningrad mit noch einmal rund 150 kilometer küstenabschnitt.

Dieses geografische durcheinander hat Larry Hall in seinem artikel "What it means, not what it says" [5] zu der bemerkung veranlasst: "Hand me that world atlas, I'm starting to lose my sense of direction!"

Drehbuchautor Vincent Tilsley mag sich dessen nicht bewusst gewesen sein, vielleicht war es ihm auch gleichgültig, und er dachte sich, niemand würde auf die idee kommen, es nachzuprüfen - hinter dem Eisernen Vorhang.

Und doch drängt sich eine hypothese auf: Was, wenn es gerade diese ungereimtheit war, die in der deutschen fassung zur verlagerung der handlung auf den Balkan führte? Die von Nadia und Karel gesprochene sprache klingt (in der originalfassung) slawisch, vielleicht russisch, vielleicht auch bulgarisch. Es wird wohl für immer ungeklärt bleiben wie auch die frage, ob dialogregisseur Brinkmann für die änderung verantwortlich war. Derselbe, dem wir im berühmten prolog die entscheidende änderung und die entgrenzung des orginalsprachlichen Villages von "Where am I?" "In the Village" hin zu "Wo bin ich?" "Sie sind da." verdanken. Ob diese drastische geografische umschichtung vom Baltikum auf den Balkan wirklich auf Brinkmann zurückgeht, bleibt ungeklärt. Zu bedenken ist, dass hier absichtlich filmbilder entnommen wurden, während im serienvorspann platz für bereits vorbereitete fremdsprachliche inserts gelassen, vom ZDF aber nicht genutzt wurde. Der filmschnitt war nicht sein arbeitsbereich. Möglicherweise wurde es ihm auferlegt.

Dieser autor hegt zweifel, dass es Brinkmanns maßnahme war.

BLAUPAUSE

Die politische welt des jahres 1967 war zweigeteilt und beide teile, jedenfalls für die augen und ohren der öffentlichkeit, ideologisch streng voneinander abgegrenzt.

Nummer Sechs: Ist ihnen schon einmal aufgegenen, dass sie auch
so ein gefangener sind wie ich?

Nummer Zwei: Oh, mein lieber freund, natürlich. Ich weiß zu viel. Wir haben beide lebenslänglich. Aber ich bin ein absoluter optimist. Deshalb spielt es für mich keine rolle, wer Nummer Eins ist. Es ist mir
ganz egal, zu welcher seite dieser ort gehört.

Nummer Sechs: Er gehört also zur einen seite oder zur anderen seite?
Nummer Zwei: Selbstverständlich. Aber sie unterscheiden sich nicht mehr.
Was ist hier in wirklichkeit entstanden? Eine internationale
gemeinschaft, der perfekte entwurf für
eine neue weltordnung. Wenn die beiden
seiten einander anschauen, werden sie plötzlich
erkennen, dass sie in einen spiegel schauen, dass
das das modell der zukunft ist.

Nummer Sechs: Die ganze Erde - wie das hier?
Nummer Zwei: Das ist meine hoffnung. Was ist ihre?
Nummer Sechs: Ich würde gern mal auf den Mond fliegen.

Es herrschte blockdenken: Auf der einen seite die westliche welt mit den aus dem Zweiten Weltkrieg als militärischer wie wirtschaftlicher gewinner hervorgegangenen USA als garant einer freien kapitalistischen wirtschaftsform; darüber hinaus waren die USA die stärkste militärmacht im westlichen bündnis NATO. Auf der anderen seite - jenseits des Eisernen Vorhangs - die staaten des Warschauer Paktes, die Tschechoslowakei, Polen, die DDR und die baltischen staaten Estland, Lettland, Litauen als teil der Sowjetunion (das heutige Russland) die hegemonialmacht. Die gründungsideologie dieser staaten basierte auf den kommunistischen doktrinen, wie sie von Lenin in der Sowjetunion im gefolge des Ersten Weltkrieges durchgepeitscht worden waren. Die Sowjetunion hatte den part des oberaufsehers für den fall, dass es den "satellitenstaaten" einfallen würde, das bündnis in frage zu stellen oder das eigene system zu liberalisieren. So geschehen 1968 in der Tschechoslowakei, wo der begonnene "politische frühling" durch den militäreinmarsch der paktstaaten zerschlagen wurde.

Gemeinsam war den staaten des "ostblocks" die nach staatlichen direktiven arbeitende planwirtschaft, aber auch andauernde devisenknappheit durch stetigen mangel an wirtschaftskraft und technologischer innovation im unterschied zum kapitalistischen westen. Der ideologie nach jedoch war man drauf und dran, den westen einzuholen und zu überholen. Das immer weitere auseinanderklaffen dieser schere führte ab mitte der 1980er jahre zur erosion der kommunistischen staatsparteien und der gelenkten volkswirtschaften bis hin zum auch militärischen niedergang der Sowjetunion und zur auflösung des Warschauer Paktes. Der Eiserne Vorhang öffnete sich 1989 in und für Deutschland.

Die östlichen staaten waren faktisch diktaturen, die westlichen (sind noch) mehr oder weniger freiheitliche demokratien. Aber wie stark durchdrangen sich die systeme strukturell tatsächlich, wenn es um fragen der individuellen freiheiten ging, um meinungsäußerung, das bildungs- und gesundheitswesen, die innere sicherheit? War es zulässig, alle bürger mittels sozialversicherungsnummer oder gar personalausweis und melderegister zu erfassen? Letztere gibt es bis heute weder in Großbritannien noch in den USA. Wie definiert eine demokratische verfassung, wer seine "feinde" sind und ab welchem punkt, oder auch nur ein abweichler von der norm ist? Wer setzt solche normen? Mit welchen mitteln werden sie verteidigt? Sind alle mittel erlaubt?

Das gespräch zwischen Nummer Zwei und Nummer Sechs spielt sich vor dieser geschichtlichen folie ab.

Das anscheinend autarke system Village erscheint als flucht- oder konvergenzpunkt der herrschenden ideologischen fronten beider systeme. Für Nummer Zwei ist es die blaupause für die zukunft. In ihm, muss man ergänzen, ist, je nach standpunkt und interessenlage, alles erdenklich schlechte enthalten (überwachungsstaat, reisefreiheit, totalitarismus), es birgt aber auch alle möglichen annehmlichkeiten für die bewohner (konsum- und freizeitmöglichkeiten, gesundheitssystem, altersvorsorge). Und natürlich sind mischformen möglich wie staatskapitalismus und "illiberale demokratie". Nummer Sechs' umfassender skeptizismus hat für diese art vision nichts übrig. Aber, wie in der originalfassung zu hören, erster mensch auf dem Mond zu sein, dafür hat es nicht gereicht.

Und die alternative? 1986 entdeckte Bruce Clark, US-teammitglied von SIX OF ONE, in einer flohmarktanzeige eine von der bekannten fernsehversion abweichende fassung der "Glocken von Big Ben" auf einer 16-mm-filmkopie. Diese als "alternate version" bekannt gewordene fassung wurde ursprünglich für testvorführungen in Kanada hergestellt. Die unterschiede zur gewohnten version sind beträchtlich:
- Ron Grainers titelmusik im vorspann fehlt, stattdessen ist Wilfred Josephs komposition zu hören, die jedoch verworfen wurde;
- der abspann ist um eine animation sowie das schlussinsert "POP" erweitert;
- eine reihe von einstellungen sind entweder zusätzlich vorhanden oder sie unterscheiden sich leicht von den bekannten.

Vor allem aber fehlt in der endfassung eine szene, die Nummer Sechs zeigt, wie er mit einem nachbau eines antiken astronomischen geräts, dem triquetrum, seine geografische position versucht zu bestimmen. Diese szene wurde aus der endfassung geschnitten, weil sie das grundkonzept der serie und erst recht den fluchtplan dieser episode unterminiert hätte; Nummer Sechs wie auch das publikum sollten niemals wissen, wo sich der mysteriöse Ort wirklich befindet.

ÜBER DEN VERLORENEN ZWEITEN ORT VON NUMMER 6
STUDIO DAYS - DAS MGM-STUDIOGELÄNDE IN BOREHAMWOOD
LOST & FOUND: DIE ALTERNATIVEN "GLOCKEN VON BIG BEN"
MEHR: QUADRATUR DES KREISES

Es war ebenfalls Bruce Clark, der um das jahr 2000 eine alternative schnittfassung von "Die Ankunft" ans tagslicht förderte. Auch hier gibt es einen veränderten vorspann, fehlt die bekannte titelmusik, es gibt zusätzliche einstellungen, und die schlusscredits sind ebenfalls anders.

[1] In Max Horas "The Prisoner Of Portmeirion" (1989 ), eine SIX OF ONE-publikation
[2] "Koroshi" und "Shinda Shima", die beiden letzten DANGER MAN-episoden waren in farbe gedreht worden. Roger Langley schreibt: "Vielleicht hatte das okay für das filmen auf 35 mm und in farbe McGoohans lang gehegte idee, eine produktion über einen namenlosen charakter, der an einem unbekannten ort gefangen gehalten wird, wiederbelebt. Aus der zeit seines ersten besuchs in Portmeirion für die dreharbeiten zu DANGER MAN erinnerte er sich an dessen schönheit. Und er war bestimmt gespannt darauf, den ort in farbe auf den bildschirm zu bringen." Roger Langley: "50 Years of The Prisoner", Escape Books 2016; s. 23
[3]
Chris Gregory: THE PRISONER Episode by Episode https://chrisgregory.org/blog/2009/09/09/the-prisoner-episode-by-episode/#2
[4]
Roger Langley: "McGoohan - Danger Man or Prisoner?" Tomahawk Press, Sheffield 2007, s. 137
[5]
"Reich mir den weltatlas, ich fange an, meinen orientierungssinn zu verlieren." Der artikel entstand 2004 für das mitgliedermagazin "Free For All".
Aus dem Englischen von Arno Baumgärtel


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