einer Tiefgarage im Regierungsviertel. Energischen Schrittes
durchmisst er einen langen Tunnel, reißt Türen auf, wütet
auf seinen Vorgesetzten ein, drischt zornentbrannt einen Umschlag
auf dessen Schreibtisch. Wieder auf der Straße, wird er von
einer geheimnisvollen Limousine erwartet, die ihm zu seiner Behausung
folgt. Dort packt er eilig ein paar Kleidungsstücke, Akten,
Fotos zusammen und merkt nicht, dass unterdessen ein nebliges Gas
durchs Schlüsselloch der Außentür geleitet wird.
Mit schwindendem Bewusstsein fällt der Mann rücklings
auf sein Bett.
lrgendwann später erwacht er, sieht sich um.
Nichts scheint verändert, bis der Mann zum Fenster tritt. Statt
auf Londoner Hochhäuser blickt er auf die pittoresken Bauten
und Anlagen eines kleinen Küstendorfes - eine trügerische
Idylle, die sich alsbald als Gefängnis herausstellen wird,
deren Bewohner Nummern tragen und permanenter Überwachung unterliegen.
Diese
dramatischen Ereignisse bilden gerade mal den Vorspann der britischen
Kultserie The Prisoner, die in Deutschland unter dem Titel Nummer
sechs zu sehen war. Zwischen 1966 und 1968 wurden 17 Episoden
gedreht, in denen der von Patrick McGoohan gespielte namenlose Titelheld,
der den Zuschauern nur als Nummer sechs" bekannt wurde,
damit beschäftigt war, das rätselhafte Dorf zu erkunden,
Fluchtwege auszuspähen, seine Mitbewohner darauf hin zu examinieren,
ob sie ebenfalls Gefangene waren oder als Spitzel fungierten (berühmt
wurde die Abschiedsformel Wir Sehen uns"). Vor allem
bewegte ihn die Frage, wer ihn eigentlich entfführt hatte -
der britische Geheimdienst, dem er bis zu seiner abrupten Demission
angehört hatte, oder eine gegnerische Organisation, die von
seinem Wissen zu profitieren hoffte.
HARALD KELLER: KULTSERIEN UND IHRE STARS
VILLAGE BOOKSHELF - mehr...
HARALD KELLER: NUMMER SECHS
MEHR: DAS EISBERG-SYNDROM
MEHR: WER IST NUMMER EINS?
Am
1. Februar 1968 endete die Serie mit der Episode Fall Out
(Demaskierung). Zur maßlosen Enttäuschung vieler Zuschauer,
die den ausstrahienden Sender ITV mit Unmutsäußerungen
bestürmten, ließ das Schlusskapitel viele Fragen offen.
Gerade diese Verweigerungshaltung aber trug dazu bei, dass The
Prisoner bis heute über eine treue Fangemeinde in aller
Weit verfügt und sogar ständig neue Anhänger gewinnt,
von denen viele in den Tagen der Erstausstrahlung noch nicht einmal
geboren waren.
Beschränkt
man sich auf Äußerlichkeiten, fällt es ähnlich
wie bei Star Trek-Jüngern und anderen telephilen Sonderlingen
leicht, sich über den Menschenschlag der Serienfans lustig
zu machen. Gerade die Prisoner-Apologeten aber, zu denen auch Geistesgrößen
wie lsaac Asimov und RolandTopor zählten, beschäftigen
sich mit großem Ernst und akademischer Akribie mit dem Gegenstand
ihrer Leidenschaft.
The
Prisoner weist zahllose politische, psychologische, literarische,
filmhistorische Implikationen auf, die zur hermeneutischen Beschäftigung
geradezu herausfordern. Zudem spielt die Biographie Patrick McGoohans,
nicht nur Hauptdarsteller, sondern auch Ideengeber, in diese von
Pop Art und philosophischem Denken gespeiste universale Erzählung
hinein - kein Zufall, dass McGoohan und der Held seiner Serie über
dasselbe Geburtsdatum verfügen.
DER COUP DES FANS
Die Mitglieder des offiziellen Fanclubs, SIX OF ONE The Prisoner
Appreciation Society verwenden viel Mühe und Zeit darauf, derartige
Details aufzuspüren und erhalten gebliebene Materialien zu
sichern. Sie betreiben eine regelrechte Serienarchäologie,
führen Interviews mit den beteiligten Künstlern, recherchieren
an Originalschauplätzen und in Archiven.
Einem
dieser hingebungsvollen Fans geIang ein Coup, als er alternative
Fassungen der ersten beim Serienepisoden ausfindig machte, die der
heutige Rechteinhaber längst vernichtet wähnte. Es war
bekannt, dass McGoohan in der Anfangsphase der Produktion geradezu
versessen an den Episoden gearbeitet und sie immer wieder umgeschnitten
hatte. Die nunmehr wieder zugänglichen Versionen waren bereits
als sendefähig an einen kanadischen Lizenznehmer versandt,
danach aber durch das heute bekannte Material ersetzt worden. Auf
nicht ganz geklärten Wegen gelangten 16-mm-Kopien dieser beiden
Filme auf den Sammlermarkt und wurden 1987 durch Zufall entdeckt.
Eine zum 35-Jahres-Jubiläum von The Prisoner aufgelegte
DVD enthält neben allerlei rarem Begleitmaterial wie einem
im Stil der Serie inszenierten Renauit-Werbespot die reguläre
wie auch die früher entstandene alternative Fassung des Pilotfilms.
Zwar scheinen die beiden Filme nur in Nuancen zu differieren, doch
es ist ein Unterschied ums Ganze. Ein kritischer Vergleich fördert
zutage, dass aus dem ambitionierten Projekt auch ein an ungewollter
Komik scheiterndes Trash-Projekt hätte werden können.
Deutliche
Abweichungen finden sich zum Beispiel in der eingangs beschriebenen
Eröffnungssequenz. Die ursprünglich eingesetzte Musik
klingt unpassend heiter, die Tonmischung - die Wutäußerungen
des aufbegehrenden Agenten werden von heftigen Gewittergeräuschen
begleitet - ist nicht annähernd so ausgefeilt wie die präzise
aufs Einzelbild gearbeitete Endfassung.
Am
deutlichsten wird der Unterschied in der Szene, die zeigt, wie Nummer
sechs nach seiner Entführung erwacht. McGoohan spielt sie expressionistisch,
reißt die Augen auf, grimassiert. Anders in der letztlich
ausgestrahlten Version, wo er, dabei wird es in der gesamten Serie
bleiben, zumeist unterkühlt und lakonisch auftrittt und seinen
Gegenspielern mit einer gewissen Ironie begegnet, die in der forcierten
Manier der Urfassung nicht funktioniert hätte. Diese aus der
Gegenüberstellung ersichtlich werdenden Nachbesserungen verraten
den für eine Serienproduktion des Jahres 1966 ungewöhnlichen
Aufwand an Zeit und Sorgfalt, der McGoohan in Konflikt mit seinen
Auftraggebern bringen und seine Produktionsfirma in den Bankrott
stürzen sollte.
Die
erwähnte DVD mit demTitel The Prisoner 35th Anniversary
Companion enthält diverse Features, Bildstrecken, Biographien
und vieles mehr. Der (englischsprachige) Titel kann, wie auch DVDs
mi sämtlichen Serienepisoden, über die einschlägigen
Web-Kaufhäuser bezogen werden. Kontakt zum Fanclub finden Interessierte
über die Homeage http://www.netreach.net/~sixofone/.
Die Society bietet exklusive Paraphernalien und organisiert diverse
Aktivitäten, zum Beispiel Fan-Kongresse am Originaldrehort,
dem zwischen 1926 und 1966 von dem exzentrischen Architekten Clough
WiIliams-Ellis in Nordwales errichteten, die postmoderne Architektur
vorwegnehmenden malerischen Küstenörtchen Portmeirion.
Lesetipps:
Steven Paul Davis u.a.: The Prisoner Handbook:
An Unauthorized Companion. Boxtree LM.; 2003
Alain Carrazée U. a.: The Prisoner: ATelevisionary
Masterpiece. Virgin Publishing Ltd., 1995, (zzt. nur antiquarisch
erhältiich);
Chris Cregory: Be Seeing You: Decoding ,,The Prisoner".
University of Luton Press, 2003.
Alle
Rechte liegen beim Autor
Von
Harald Keller ist in Buchform erschienen:
__
Kultserien
und ihre Stars, Erstausgabe 1996 Nr.4 bei Edition Splitscreen,
Bertz-Verlag, Berlin, mit einem beitrag von Harry Rowohlt; 1997
Nr. 5 Fortsetzung folgt...; 1998 Nr. 6: Das
Pflichtprogramm
Eine
ergänzte neuauflage in einem Band erschien 1999 bei
Rowohlt
Dieser
beitrag erschien am 05.05.2004 in der Frankfurter Rundschau. Mein
dank an den autor für die freundliche erlaubnis zur wiedergabe
an dieser stelle! Die weiterverbreitung dieses textes ohne genehmigung
des verfassers ist nicht gestattet! |