geben. NUMMER
6 wird oft als kafkaesk bezeichnet, womit strukturen und handlungsstränge gemeint sind, die sich ähnlich im werk
des romanautors und erzählers Franz
Kafka finden. Zu lebzeiten so gut wie unbekannt, ist sein werk
seither als symbol für den modernen, mit entfremdungsängsten
beladenen menschen
AUS DEM ENGLISCHEN VON ARNO BAUMGÄRTEL |
in einer undurchschaubaren, feindseligen oder
gleichgültigen welt befunden worden. Kafkas fiktionale literatur
beschwört wie ein Rorschachtest schlüssige erklärungsversuche
herauf und macht sie gleichfalls zunichte.
Zwei
seiner bekanntesten werke sind die unvollendeten romane "Der
Prozess" (1925), worin ein mann von der justiz eines nicht
näher spezifizierten verbrechens angeklagt, von unerklärlichen
instanzen beeinflusst wird und ins räderwerk eines unfassbaren
gerichtshofes gerät. In "Das Schloss" (1926)
werden die unablässigen, aber erfolglosen anstrengungen des
protagonisten nach anerkennung durch die geheimnisvollen, von einem
schloss aus herrschenden autoritäten und das dorf, wo er sich
niederlassen möchte, beschrieben. Bereits hier lassen sich
einige parallelen ziehen.
MEHR: FRANZ KAFKA
Obwohl
Patrick McGoohan behauptet, er habe niemals Kafka gelesen, war ihm
das werk von Orson Welles sicher bekannt, mit dem er am theater
in London an der bühnenfassung von "Moby Dick" gearbeitet
hatte - und wie McGoohan ebenfalls ein auteur (originalbegriff,
als theater- bzw. filmregisseur; Ü.).
Mir scheint Welles' filmversion des Kafka-romans DER PROZESS
(1962) eine inspirationsquelle für zumindest ein paar aspekte
von NUMMER 6 zu sein.
Natürlich,
darin gibt es keine gekidnappten agenten, keine zwergenhaften butler
oder marodierenden ballonmonster - wir müssen schon etwas tiefer
gehen; aber sehr bald begegnen uns nicht nur vertraute handlungsfäden,
sondern einige verbildlichungen, die ihre direkten entsprechungen
in NUMMER 6 zu haben scheinen.
DER
PROZESS IST EIN PERFEKTES BEISPIEL FÜR EINEN FILM NOIR
MIT EINEM WUNDERBAREN GEBRAUCH VON LICHT UND SCHATTEN SOWIE UNGEWOHNTEN
AUFNAHMEWINKELN UND DEM EINFALLSREICHEN EINSATZ GELENKTER PERSPEKTIVEN.
Zum
beispiel die episode "Die Anklage". Sie bedient sich ähnlicher
mittel, um einen höheren sinn für entfremdung anzusprechen.
Zeit hat in dem film, wie in NUMMER 6, eine traumartige surreale
qualität, sie wird gedehnt und zusammengestaucht, während
die ereignisse darin ineinander aufgehen.
Zu beginn des films treffen wir auf das konzept des Gesetzes,
das ganz ähnlich wie die Regeln in "Die Anklage"
genauso unerklärlich wie unversehrt ist. Josef K. (gespielt
von ex-PSYCHO Anthony Perkins) erwacht und stellt fest, dass
er unter anklage steht. Eine gruppe männer befindet sich in
seinen privaträumen, offensichtlich ohne sich in irgendeiner
form ausweisen oder legitimieren zu müssen bzw. ohne einen
schlüssel zu benötigen. Man informiert ihn, dass er unter
arrest stehe, gibt ihm jedoch weder eine begründung für
die beschuldigung, noch nennt man ihm die art des vergehens. "Schuldig,
lesen sie die anklage!" scheint hier die devise zu lauten.
Tatsächlich, Josef K. wird es niemals herausfinden und den
rest seines lebens unter beobachtung und mit befragungen verbringen,
mit versuchen aus dieser ungewollten lage heraus zu kommen.
Die
filmhandlung findet in einer und um eine reihe seltsamer gebäude
statt, die untereinander verbunden zu sein scheinen, während
sich ihre relative lage zueinander und ihre grundrisse unerwartet
verändern können und es keine wahrnehmbaren entfernungen
zwischen ihnen gibt. Urplötzlich erscheinen und verschwinden
leute, während Josef K. sich von ort zu ort bewegt und die
empfindung des unwirklichen sich nie verliert.
Im zentrum der handlung steht das labyrinthische gerichtsgebäude
mit endlosen fluren und mysteriösen aktenschränken scheinbar
überall.
Vor
der tür einer leeren abstellkammer sitzt seit langem eine frau.
Jemand, der anscheinend eine höhere position bekleidet, habe
ihr gesagt, sie solle ihre unterlagen unter der tür
ANGEKLAGTE
MÄNNER UND FRAUEN BEVÖLKERN DAS GERICHTSGEBÄUDE,
SIE
ALLE WARTEN SCHIER ENDLOS DARAUF, IHREN FALL VORTRAGEN ZU KÖNNEN,
JEDOCH
MACHTLOS, DAS VERWORRENE UND UNERKLÄRLICHE FUNKTIONIEREN DES
GESETZES
DURCHBRECHEN ZU KÖNNEN.
durchschieben
und dann warten. Andere personen sind angestellte und arbeiten in
mehrfachen funktionen bei gericht und in der nähe. Eine frau,
anscheinend eine putzfrau, kann Josef K. auf diese weise etwas von
ihrem wissen, wie man nachforschungen und seine verteidigung betreibt,
weitergeben und ihn gleichzeitig verführen.
Ganz
wie die bewohner des Ortes in NUMMER 6, sind die angeklagten
nicht in der lage, die angeklagten (die gefangenen?) von den offiziellen
(den wärtern?) zu unterscheiden. Josef K. wird behandelt, als
sei er beides. Der grund dafür ist derselbe wie in "Schachmatt".
Josef K. zeigt sich entschlossen, was die mehrheit jedoch als stärke
aufgrund seiner stellung interpretiert. Er lernt aber schnell, dass
potenzielle verbündete alles andere sind als das. Letztlich
vertraut er nur noch sich selbst, was NUMMER 6-zuschauern, alles
in allem, sehr bekannt vorkommen wird.
Obwohl
er formal unter arrest steht, kann er sich frei bewegen und seiner
arbeit nachgehen. Diese findet augenscheinlich in einem riesigen
büro statt mit endlosen reihen schreibtischen an schreibtischen.
DIE
MENSCHEN NEHMEN VON IHM KAUM NOTIZ ODER VONEINANDER UND VERLASSEN
BEIM GLOCKENSCHLAG IHRE SCHREIBTISCHE.
Josef
K.s berufliche position scheint recht weit oben angesiedelt zu sein.
Sein schreibtisch steht allein, er empfängt besuch und, wie
Nummer Sechs, kommt und geht, wie es ihm passt. Aber frei ist er
nicht und wird er nie sein.
EIN
RIESENHAFTER COMPUTER, SO GROß WIE EINE WAND, ÜBERWACHT
DIE ANLAGE: ÄHNLICHKEITEN WIE IN "DER GENERAL".
Angeklagter
zu sein verändert das ganze leben. Man verbringt die meiste
zeit damit, beweise für seine unschuld zu sammeln, um letztendlich
einen oder mehrere der geheimnisvollen "Richter" von
der eigenen schuldlosigkeit zu überzeugen. Diese Richter
scheinen die höchsten autoritäten zu sein, doch hat
in wirklichkeit noch nie jemand einen gesehen oder ist bereits von
einem verurteilt worden, aber jeder kennt jemanden, der jemand kennt,
der schon verurteilt wurde!
Josef
braucht unterstützung und geht zu einem anwalt (gespielt von
Orson Welles), von dem er annimmt, er könne ihm helfen. Dessen
haus wird von einer nymphomanischen verwalterin geführt zusammen
mit einem mann, der dort zu leben scheint und der selbst ein angeklagter
ist. Der anwalt ist recht sympathisch, hat jedoch außer leerem
gerede wenig hilfe anzubieten. Die verwalterin erzählt Josef
K. von einem künstler, unter dessen porträtarbeiten auch
solche von Richtern seien, und dessen einfluss ihm womöglich
helfen könne. Er sucht ihn auf. Der mann lebt in einem verschlag
unter dem dach eines gebäudes, das wie infiziert ist von horden
unheimlicher aufdringlicher kinder. Auf einer engen steilen treppe
muss Josef K. sich gegen wahrhaftige kinderströme zur wehr
setzen. Das "atelier" des künstlers ist in wirklichkeit
eher ein käfig, bestehend aus rohen brettern mit ebenso vielen
spalten dazwischen. Obwohl die tür geschlossen ist, spähen
die kinder andauernd durch die ritzen und verspotten die beiden
männer.
Josef K. bekommt trotz der offenen wände zunehmend platzangst
und versucht verzweifelt zu gehen. Der merkwürdige künstler
schlägt ihm vor, er solle den raum durch eine andere tür
verlassen, um den kindern aus dem weg zu gehen. Josef tritt hindurch
- und wird von der alptraumhaften erkenntnis überfallen, dass
er sich zurück im gerichtsgebäude befindet.
EIN
FLUR VOLLER AKTENSCHRÄNKE IM PROZESS (LINKS),
PRAKTISCH DERSELBE
BLICK, WIE IN DER TITELSEQUENZ VON NUMMER 6.
Einmal
mehr trifft er auf ganze reihen von angeklagten, die sich alle erheben,
als er näher kommt. Er ist nicht in der lage, sich mit ihnen
auseinander zu setzen und verfällt in panik. Er kehrt um, durch
das atelier des künstlers, beginnt zu laufen. Irgendwie ist
er nun im erdgeschoss, läuft verängstigt wie durch einen
kaninchenbau aus tunneln, verfolgt von johlenden kindermassen in
einer jagdszene, die sich fast exakt so in der NUMMER-6-episode
"Die Anklage" wiederfindet.
Die
meisten schauplätze dieses films waren reale orte, der hauptschauplatz
das bröckelnde bauwerk des bahnhofes Orsay im zentrum von Paris,
bevor es renoviert und als Musée d'Orsay zum haus für
impressionistische kunst wurde.
DER
PROZESS würde leicht als typische episode von NUMMER
6 durchgehen. Viele elemente sind gleich und es sieht in vielfacher
hinsicht nach einer verschmelzung von "Die Anklage", "Freie
Wahl" und "Sinneswandel" aus. Obwohl - ob nun der
film tatsächlich direkte einflussquelle für NUMMER 6 war,
bleibt spekulation. Es gibt viele ähnlichkeiten, einiges mag
zufall sein, anderes mag aus einem unbewussten ideenreservoir stammen.
Von Jack Shampan (mehr...),
dem NUMMER-6-art-director, ist bekannt, dass er absichtlich
visuelle bezüge aus deutschen expressionistischen filmen wie
Fritz Langs M in seine designarbeit an NUMMER 6 einbrachte.
Es wäre also keine überraschung, wenn sich DER PROZESS
auch auf seiner liste befände.
AUCH
DIE AUFNAHME DER KORRIDORSZENE IM VORSPANN VON NUMMER 6 (RECHTS)
IST EINER EINSTELLUNG IM PROZESS SEHR ÄHNLICH.
MEHR: SURREALISMUS
Im
fernsehen ist der film nur selten zu sehen. Bei Amazon gibt es ihn
in zwei versionen, eine mit bonuszugaben, etwa einem alternativen
anfang. Wenn sie ihn sehen können, hier sind einige weitere
offensichtliche parallelen zu NUMMER 6, nach denen sie ausschau
halten können:
Der protagonist wird niemals richtig benannt, es ist nichts
über sein persönliches leben zu erfahren.
Die bewohner des Ortes können nicht unterscheiden, wer
freund oder feind ist.
Der held ist ein starker charakter mit ungewöhnlichen
fähigkeiten, entschlossen, das system nach seinen eigenen regeln
zu schlagen, trotz der tatsache, dass praktisch alle anderen apathisch
sind.
Als Josef K. aus dem verschlag des künstlers tritt,
hat er praktisch den blick in den gleichen flur mit aktenschränken
wie im vorspann von NUMMER 6.
An einer stelle muss Josef K. sich durch eine seltsame menschenmenge
drängeln, in der alle nummern zur identifizierung tragen.
Sowohl DER PROZESS wie NUMMER 6 bilden jeweils einen
starken kommentar zur art und weise, wie das system durch manipulation
und loswerden von menschen danach trachtet, seinen status quo zu
schützen.
Bürokratie um ihrer selbst willen wird als treibende
kraft all dessen dargestellt, was schließlich zu entmenschlichung
und identitätsverlust führt.
Die jagd durch die abwasserkanäle ist identisch mit
der durch die gänge unter dem rathaus in der episode "Die
Anklage".
Grundlegend in DER PROZESS ist das unerklärliche "Gesetz"; wie die "Regeln" in
"Die Anklage" ist es ebenso unverletzlich, jedoch hat
nie jemand irgendwo einmal ein gesetzbuch gesehen oder kann angeben,
von wem es erlassen wurde.
Oft wird über die macht hinter dem system gesprochen,
zu sehen ist sie nie, außer vielleicht am ende.
Am ende wird alles in die luft gejagt!
DER
PROZESS wird oft auch unter dem alternativtitel LE
PROCÈS geführt. Hier einige DVD-cover, dazu
das filmposter rechts. Auch auf CITIZEN WELLES, einem
dreierpack, ist er zu finden. Etwa 30 jahre nach seiner herstellung
gab es ein remake mit Anthony (HANNIBAL) Hopkins und Kyle (TWIN
PEAKS) MACLACHLAN.
Larry Hall war langjähriges mitglied des koordinationsteams der
Prisoner Appreciation Society. Von ihm stammen viele multimediale features, trailer für die PRISONER-conventions und der kurzspielfilm RESOLUTION. Halls artikel erschien 2004 in der SIX OF ONE-mitgliederzeitschrift "Free
For All". |