Alles in allem jedoch gibt es da ein paar stränge, die beide verbinden
bzw. ihre jeweiligen grenzen offen legen. Was wiederum eine sache der - subjektiven
- perspektive eines jeden selbst ist.
"What would Poles or Czechs be doing here?" fragt Nummer Sechs die taxifahrerin ohne zu bedenken, dass er selbst sich vielleicht gar nicht "hier", sondern vielmehr "da" befinden könnte.
Sicherlich ist es nicht sehr fair, Alain Resnais' film L'ANNEE DERNIERE
A MARIENBAD mit einer kommerziellen TV-serie wie NUMMER 6 zu vergleichen. MARIENBAD ist ein seltsamer
film des französischen regisseurs Alain Resnais von 1961, der nicht jedem etwas sagen, geschweige denn gefallen wird. Das
skript des films stammt vom französischen nouvelle-vague-autor Alain
Robbes-Grillet.
THIS PAGE IN ENGLISH
Drei
menschen, "A", "X" und "M", an einem
ort, welcher ort und wo genau bleibt offen. Es scheint ein grand-hotel
zu sein, früher vielleicht ein schloss, mit riesigen dekorüberladenen,
aber sterilen fluren, wasserspielen und gärten, wo zwar menschen,
büsche und bäume aber keine schatten werfen. Oberflächlich
scheint es um eine beziehung zu gehen. Man habe sich doch, so "X"
zu "A", "letztes jahr" schon einmal
getroffen. Wo genau? Vielleicht sei es "hier" gewesen. Der name des kurorts Marienbad fällt lediglich im zusammenhang mit weiteren (fiktiven) möglichen
orten. Es bleibt den zuschauern überlassen. Die figuren sind
isoliert, bisweilen statuarisch wie die steinernen skulpturen draußen
im park, ihr
IMAGINÄRES
SCHACHBRETT 1961
handeln ist distanziert. Ort- und zeitangaben sind
ohne jede relevanz bzw. realität, dialoge, kameraeinstellungen
und handlung oft genug inkongruent.
Die deutsche Wikipedia schreibt*, unter anderem sei Alfred Hitchcocks VERTIGO (1958)
eine der hauptquellen für das MARIENBAD-drehbuch gewesen.
VERTIGO wiederrum beruht auf dem französischen roman "D'entre les Morts" ("Aus dem Reich der Toten") von Pierre Boileau und Thomas
Narcejac (1954). Und tatsächlich ist zeitlosigkeit bzw. das
ineinanderdringen verschiedener womöglich subjektiver epochen
ein grundelement des geschehens in VERTIGO. "Beunruhigend"
sei die stimmung des films, heißt es in einem filmlexikon.
Anderswo wird die negierung, die dekonstruktion und die manipulation
filmischer zeit wie auch erzählerischer strukturen üblicher
Hollywood-filme betont, indem das menschliche subjekt aus dem zentrum
(des filmischen und erzählerischen kontextes) gerückt
werde.
WIEDERBELEBTES
SCHACHBRETT: PRISONER CONVENTION 2011
LETZTES JAHR?
MARIENBAD?
THE VILLAGE?
DER ORT?
Beide, serie wie film, wissen nichts voneinander. Nicht
offensichtliche querverbindungen von NUMMER 6 zu MARIENBAD sind
es, vielmehr unterschwellige bezüge hinsichtlich der relativen
ort- und zeitlosigkeit der schauplätze. Hier das hotel oder wie es
schon im (off-) vorspann heißt und wiederholte male über
bildersequenzen hinweg, kamerafahrten durch die flure des gebäudeinneren, ein "bauwerk einer anderen zeit". Dort
der Ort von NUMMER 6 und die von dialogregisseur Joachim
Brinkmann und auch nur in der deutschen fassung gern genutzte ersetzung
des begriffs "Village" durch das ungefähre "hier" oder "an diesem ort" sowie die von der serie geschaffene gelegentliche unverbundenheit von handlung ebenso wie
mancher figuren.
SURREALISMUS IN NUMMER 6
NUMMER 6 ALS DISKURS
MEHR: SIR CLOUGH WILLIAMS-ELLIS
MICHAEL BRÜNE ÜBER DIE ANTHONY-SKENE-TRILOGIE
MEHR: INDIFFERENZ
MEHR: PORTMEIRION - THE VILLAGE
MEHR: KURSAAL VERGNÜGUNGSPARK
Ein
teil der handlung in MARIENBAD findet in einem interieur ähnlich
dem der party von Madame Engadine in "A. B. und C." statt.
Dort rückt Nummer Sechs einen spiegel gerade, in wirklichkeit jedoch den gesamten (imaginären filmischen) raum. In
MARIENBAD einstellungen von personen in spiegelbildern, innere montagen,
die an Orson Welles' CITIZEN KANE denken lassen; Patrick McGoohan
war einmal theaterschauspieler bei Welles. Von "falschen
türen, falschen säulen" ist die rede. Falsche,
weil einseitig durchsichtige fenster findet man in der NUMMER 6-folge
"Die Anklage" ebenso wie flure. Optische trugbilder, aufgemalte fenster und
scheinarkaden, als bewusst gesetzte gestaltungsmittel
finden sich am realen drehschauplatz Portmeirion in großer zahl.
Filmische montage macht statuen im park lebhafter, als es die menschlichen
figuren sind. Und nein, nicht die balinesischen tänzerinnen
in Sir Clough Williams-Ellis' theaterdorf sind gemeint oder die
sich drehenden, mit überwachungskameras versehenen steinbüsten
in NUMMER 6.
Die
frage nach der geografischen lage des Ortes als (von ausnahmen
abgesehen) praktisch einzigem schauplatz der serie erhält von
der produktion geschürte widersprüchliche antworten. Gibt
es überhaupt etwas außer dem Ort? In "Die Anklage"
wird das von Nummer Zwei bestritten. Er könnte ebenso eine
mentale manifestation sein.
Alain
Carrazé und Hélène Oswald schreiben in ihrem buch "The PRISONER.
A Televisionary Masterpiece": "Alle episoden scheinen
in einer ewigen gegenwart stattzufinden und eine unerbittlich zyklische
geschichte zu erzählen."**
Aus
der zeit
gefallen: Wie lang Nummer Sechs im Ort festgehalten wird,
ist nicht eindeutig zu beantworten. Anhaltspunkte innerhalb der
handlung und die verwendung von McGoohans eigenem geburtsdatum lassen
einen zeitraum zwischen einem halben bis über ein jahr plausibel
erscheinen. Indizien wie der sichtbare wechsel der jahreszeiten jedoch sind dagegen zufällig und
eher auf produktionsbedingte umstände als auf inhaltliche stringenz
zurückzuführen. Auch die radikalere theorie, ob Nummer
Sechs' erlebnisse überhaupt im Ort stattgefunden haben und
er womöglich alles - wie und weshalb auch immer - nur halluziniert oder geträumt
hat: Die inhaltliche unverbundenheit und die handlungsmäßige
sprunghaftigkeit der einzelfolgen von NUMMER 6 ist die entsprechung
der verhältnisse in MARIENBAD.
SPIEGEL,
DECORS UND KORRIDORE: LETZTES JAHR IN MARIENBAD
NUMMER
6 steckt voller symbolik wie das schachspiel,
masken, spiegel. Das explizit bühnentheatralische element aus
den episoden "Pas de deux" und "Demaskierung"
findet sein pendant in
MARIENBAD zu
beginn in
dem avantgardistisch anmutenden theater als spiel innerhalb des
filmischen spiels - bevor man realisiert, dass es sich um ein theaterstück
handelt - sowie am schluss. Wie
im grunde jedes theaterstück sind sowohl MARIENBAD als auch
NUMMER 6 versuchsanordnungen der speziellen art. Vom Village aus NUMMER 6 sagt Nummer Zwei in "Die Glocken von Big Ben",
es sei das rollenmodell einer neuen weltordnung, und - wer weiß
- vielleicht das einer neuen erzählordnung, insofern die welt
als text, ein system von zeichen begriffen werden kann. Strukturalisten
werden den ort von Nummer Sechs voller zeichen: hinweisschilder
finden.
Keine
namen: "A",
"X" und "M" - diese chiffren und rollen finden, bei allen unterschieden hinsichtlich
der (ent-) dramatisierten MARIENBAD-handlung, ihre
gegenstücke in den anonymen codebezeichnungen
"A. B. und C." aus der gleichnamigen episode wie, in
"ZM73", einem der decknamen sowie,last not least, beim protagonisten "Nummer Sechs" selbst und den meisten anderen bewohnern mit nummern
als namen. Diesen so offenkundigen hinweis
verdanke ich David Stimpson.
Postmoderne elemente sind in der episode "Harmony"
als western präsent wie auch in McGoohans weigerung, die serie mit
"Demaskierung" genre- und fernsehkonform
aufzulösen, ergo nach traditionellem serienverständnis
ein "schlüssiges" ende mit einem hauptverantwortlichen
für all die machenschaften zu präsentieren. Sie treffen
sich mit MARIENBAD in ihrer dekonstruktiven narrativen, repetitiven ebenso zirkulären wie imaginären
Marienbad ist ein kleiner fin-de-siècle-kurort
des 19. jahrhunderts in der heutigen Tschechischen Republik, die wiederrum
Teil des K.u.K.-reiches war. "K.u.K.", die bezeichnung "Kaiser und König" steht für die ehemalige österreichisch-ungarische Monarchie, die
nach dem Ersten Weltkrieg zu ihrem ende kam. Im 17 jahrhundert wurde das als heilend geltende wasser der dortigen Auschowitzer quellen von kranken getrunken, und man nahm bäder in den heilschlämmen. Die ersten badehäuser wurden 1807/08 errichtet und nach der schwefligen quelle "Marienbad" benannt. 1824 hatte Marienbad bereits einen guten ruf als kurort und wurde von europäischen berühmtheiten wie Johann Wolfgang von Goethe, dem späteren britischen König Edward VII. oder dem österreichischen Kaiser Franz Joseph I. aufgesucht. Die blüte des badeortes war um 1904. Nach der zäsur aufgrund des Ersten Weltkriegs lebte der kurbetrieb ab 1920 wieder auf. Mit dem ende des Zweiten Weltkriegs jedoch begann für Marienbad, das unzerstört blieb, ein schleichender niedergang durch ausbleibende zahlungskräftige erholungssuchende und durch den umstand, dass der ort hinter dem Eisernen Vorhang in der - damaligen - Tschechoslowakei lag. Seit 1989 und dem ende des "realsozialismus" wurden die stadt und die kur- und badeanlagen nach und nach saniert und wieder instand gesetzt. |
gesamtanlage. Schade
nur, dass die serie diesen visuellen und dissoziativen stil nur
spärlich und nicht sehr konsequent durchzuhalten weiß,
was wiederrum den reichlich wirren produktionsumständen und
den oft über Patrick McGoohans absichten im unklaren gelassenen
beteiligten drehbuchautoren zuzuschreiben ist. Als prominente ausnahmen
wären vor allem "Die Ankunft" , "Die Anklage"
und "Free For All" zu nennen. Bleibt als fazit
die interessante frage, wie es denn kommt, dass zwei so unterschiedliche
und jahre auseinanderliegende produktionen zumindest streckenweise
die - nennen wir es einmal - gleiche luft atmen?
ORCHESTERPAVILLON: EINMAL NICHT IN MARIENBAD, SONDERN IN BAD EMS
Belle Epoque Die
anmutung eines kurortes oder sanatoriums wird vor allem durch die abgeschiedene
lage sowie die eigentümliche architektur des Ortes unterstrichen.
Kurorte verdanken ihre entstehung der medizinischen wirkung heißer oder mineralstoffreicher quellen, die bereits in der antike bekannt waren. Die ersten offiziellen bade- und kurorte für begüterte entstanden im 18. jahrhundert in England, etwa Bath und Brighton, in Kontinentaleuropa ab dem 19. jahrhundert, orte an
der Ostsee, in Böhmen Karlsbad und Marienbad, aber auch anderswo. Hier traf sich die gehobene gesellschaft
zur erholung, freizeitgestaltung und zur politik- und geschäftsanbahnung. In
kurorten konzentrierten sich einrichtungen für unterkunft,
bildung, kommunikation, freizeit und amüsement, für die
wiederrum spezialisierte gebäude geschaffen wurden: kurhotels,
trinkhallen, (thermal-) bäder, spielcasinos, orchesterpavillons,
restaurants und cafés. Dazu gesellten sich häufig theater,
museen, ausflugsziele (türme, bergbahnen usw.) sowie, besonders
in seebädern, strandpromenaden und als besondere attraktion
ins meer hinausgebaute piers (landungsstege).
|
Schon
das spielerische der architektur des Ortes von NUMMER 6, the Village, verschlungene fußwege,
gärten und anpflanzungen oder das prominente bauwerk Bristol
Colonnade als spielstätte für musikkonzerte, beschwören
unbeschwertheit und erbauung herauf. Gelegentliche aufnahmen aus
der ferne zeigen die bewohner wie in einer sommerfrische bei urlaubsähnlichen tätigkeiten wie sonnenbaden am strand,
schwimmen, beim spaziergang und ab und zu als regelrechter
prozessionszug auf der Piazza, stets ausgestattet
mit den bunten pullovern, capes und sonnenschirmen.
Darüber hinaus
existiert im Ort von Nummer Sechs sowohl eine ausstellungs- bzw. freizeithalle wie ein (allerdings nur dem namen nach auf dem lageplan zu findender) "Palace of Fun" und das von einigen bewohnern
für merkwürdige freizeitaktivitäten genutzte Steinboot vor einem repräsentativen hotelgebäude, das als Altenheim fungiert.
SURREALISMUS IN NUMMER 6
NUMMER 6 ALS DISKURS
MEHR: SIR CLOUGH WILLIAMS-ELLIS
MICHAEL BRÜNE ÜBER DIE ANTHONY-SKENE-TRILOGIE
MEHR: INDIFFERENZ
MEHR: PORTMEIRION - THE VILLAGE
MEHR: KURSAAL VERGNÜGUNGSPARK
Wie ein wirklicher kurort verfügt der Ort von NUMMER 6 über ein krankenhaus,
darüber hinaus, hinter der heiteren fassade, auch über medizinische einrichtungen
von düster-fragwürdigem nutzen. Von psychologischen therapien
bis zu versuchen an (wehrlosen) menschen scheint hier alles möglich
zu sein.
NUMMER SECHS BEIM NACHMITTAGSKONZERT
IN "DIE ANKUNFT"
|
Kurorchester Und ganz wie es sich für
eine richtige kurstadt gehört, spielt die musik dazu. Schon
in der ersten episode besucht Nummer Sechs die darbietung des Village-kurorchesters,
im realen Portmeirion in der Bristol Colonnade, wo die
platzkonzerte gegeben werden.
Üblicherweise sind kur- oder auch salonorchester
in der regel kleinere instrumental-ensembles, die zur erbauung
der gäste musik zum
hören nebenbei spielen. Gemessen
daran, was man in NUMMER 6 zu hören bekommt, dürfte das
durchschnittliche repertoire der Village Band aus leicht schmissiger populärer, oft vom militärischen
beeinflusster unterhaltungsmusik bestehen. Häufig zu hören ist der "Radetzki-Marsch". Dieses
Strauß-stück konnotiert am stärksten die ins zeitgenössische
herüber gerettete "gute alte" K.u.K.-vergangenheit**.
Ein objet trouvé auch das.
*) abgerufen (erneut) am 28.08.2021
**) Genau genommen müsste es auf Deutsch "zirkulär" heißen. Die begriffe "zirkulär" und "zyklisch" werden oft synonym verwendet. Anders als auf Deutsch ist im Englischen ist "cyclical" der passende ausdruck.
***) K.u.K. - die etwas despektierliche abkürzung bezeichnet die vergangene österreichisch-ungarische doppelmonarchie, "Kaiser und König", die nach dem Ersten Weltkrieg zu ihrem ende kam. |